Nach zahlreichen Operationen in den vergangenen Jahren kann der Lilien-Spieler ein wenig aufatmen: Er muss nicht länger um seinen körperlichen Zustand, seine Karriere fürchten. Nun spricht der Deutsch-Amerikaner über seine Kindheit, seinen leiblichen Vater und die Frage: Was, wenn's mit dem Fußball nicht klappt?
Von Melanie Kahl-Schmidt
Sportredakteurin Darmstadt
Immer voll dabei: Terrence Boyd im Zweikampf gegen Dzenis Burnic (Borussia Dortmund) Foto: Huebner/Voelker
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DARMSTADT - Als der Ball im Spiel gegen Borussia Dortmund vor vier Wochen im Netz zappelte, war dies Balsam auf die Seele jenes Mannes, der noch vor einem Jahr um die Fortsetzung seiner Karriere bangen musste. Dass er nach vier Operationen innerhalb von 640 Tagen überhaupt wieder auf dem Platz stehen kann, gleicht einem medizinischen Wunder.
Terrence Boyd hat in den letzten zwei Jahren erlebt, wie schnell sich das Schicksal gegen jemanden stellen kann. Durch unbändigen Optimismus und Ehrgeiz hat der 26 Jahre alte Deutsch-Amerikaner diese schwere Zeit gemeistert. Und seit Januar versucht er bei den Lilien wieder die Torgefahr auf den Platz zu bringen, die ihn vor seiner Verletzung ausgezeichnet hatte. Getreu seinem Lebensmotto, das als Tattoo seinen rechten Unterarm ziert: Es geht immer weiter.
Terrence Boyd wird am 16. Februar 1991 geboren. Sein Vater ist US-Soldat, die Mutter kommt aus Bremen. Nach dem Golfkrieg zieht die junge Familie nach Queens in die USA. Nach einem Jahr trennen sich die Eltern, Terrence kehrt mit seiner Mutter nach Bremen zurück. "Mittlerweile besteht kein Kontakt mehr zu meinem leiblichen Vater. Seit meinem achten Lebensjahr habe ich einen Stiefvater, dem ich neben meiner Mutter viel zu verdanken habe."
STECKBRIEF
Was wusstest du von Darmstadt, bevor du hierher gekommen bist?
Ich hatte bereits ein Spiel mit RB Leipzig in der Zweiten Liga am Böllenfalltor - von daher wusste ich, wie schwer es hier für jeden Gegner sein kann (lacht). Ich hatte Respekt davor, dass der Verein im ersten Jahr nicht gleich wieder aus der Bundesliga abgestiegen ist, sondern allen Zweiflern zum Trotz die Klasse halten konnte.
Gibt es einen Lieblingsplatz für dich in Darmstadt?
Ich verbringe sehr gerne Zeit in Cafés, auch hier in Darmstadt habe ich schon das eine oder andere besucht. Seitdem ich zwei Jahre in Wien gelebt habe, bin ich totaler Kaffee-Fan - obwohl ich zuvor nie Kaffee getrunken hatte (lacht.)
Ist deine Familie mit nach Darmstadt gekommen?
Ja, ich lebe mit meiner Freundin und meiner Tochter Eliane etwas außerhalb von Darmstadt im Grünen.
Was machst du in deiner Freizeit am liebsten?
Naja, eigentlich schleppe ich meine Familie ziemlich oft mit in Cafés (grinst). Nein, wir gehen natürlich auch viel spazieren mit der Kleinen beziehungsweise unternehmen etwas mit ihr.
Wo kann man dich im Urlaub treffen?
Der nächste Urlaub soll uns eigentlich mit ein paar Freunden nach Los Angeles führen, wenn das mit der Kleinen klappt. Auch ein paar Hochzeiten haben wir noch abzuklappern.
Hast du ein Ritual vor oder nach dem Spiel?
Ich bin schon abergläubisch - sprich wenn etwas in der Woche vorher geklappt hat oder ich ein Tor geschossen habe, dann versuche ich alles beizubehalten. Problematisch wird es dann nur, wenn es dann wieder nicht mehr klappt (lacht).
Wer war dein unangenehmster Gegenspieler bisher?
Solche, die eben auch richtig hinlangen, wie Sokratis vom BVB zum Beispiel. Spieler, die dir eine Schelle geben und dich anschauen, als ob nichts gewesen wäre. Ich spiele ja ähnlich, von daher mag ich das (grinst).
Hast du deine Trikotnummer 15 aus einem bestimmten Grund?
Nein, ich hatte bisher immer die 9 oder die 18, aber beide waren hier schon vergeben. Jetzt habe ich die 15 - und das ist okay.
Welche Frage von Journalisten nervt dich am meisten und warum?
Zur Zeit ganz klar Fragen zum Thema Abstieg und zur Tabellensituation. Denn es bringt uns nichts, jeden Tag auf den Tabellenplatz zu schauen. Das machen im Übrigen andere Teams, die zum Beispiel um Meisterschaft oder die Qualifikation für internationale Wettbewerbe spielen, auch nicht.
Mit fünf Jahren sieht Terrence mit seiner Mutter beim Bäcker einen Aushang: Der ortsansässige Fußballverein 1. FC Burg sucht Spieler. "Da dachte ich, mache ich doch mal mit." Im weiteren Verlauf seiner Jugend jagt der fußballbegeisterte, aber anfangs auch ein wenig faule Junge dem runden Leder auf Provinzbolzplätzen hinterher. Mit seinem Stiefvater trainiert er fast täglich privat, Übungsstunden absolviert er regelmäßig auch am DFB-Stützpunkt Bremen-Nord. "Manchmal war ich den Tränen nahe und echt sauer auf ihn, weil wir so hart gearbeitet haben. Eigentlich war ich nämlich eine faule Socke. Ich wollte damals schon nach oben kommen, hätte aber nie daran gedacht, dass es auch so kommen wird. Er hat mir aufgezeigt, dass man mehr machen und sich auch mal quälen muss, um Erfolg zu haben - egal bei was. Das hat mich sehr geprägt."
Über starke Leistungen bei der Leher Turnerschaft Bremerhaven in der B-Junioren-Regionalliga-Nord empfiehlt er sich für die Bremer Landesauswahl. "Ich habe nie in einer Jugend-Bundesliga gespielt oder schon im Kindesalter eine Akademie oder ein Fußball-Internat besucht. Stattdessen spielte ich mich über gute Leistungen in meinen Vereinen in die Landesauswahl von Bremen. Dort gelangen mir dann viele Treffer, so auch beim Länderpokal und Sichtungsturnier in Duisburg. Da war ich aber bereits 17 Jahre alt."
Er ist der einzige aus der Landesmannschaft, der nicht bei Werder unter Vertrag steht. "Das war damals kurios. Ich erzielte viele Treffer für die Landesauswahl, spielte aber bei keinem großen Verein. Dementsprechend wollten mich dann einige Bundesligisten verpflichten, darunter auch Werder Bremen. Denen habe ich dann - sicher auch ein wenig aus Trotz - abgesagt, da sie mich vorher auch nicht haben wollten. Wobei das schon hart war, denn als Bremer bist du natürlich immer auch irgendwie Werder-Fan."
Boyd entscheidet sich für die Nachwuchsabteilung von Hertha BSC Berlin. "Dieser Schritt war Gold wert, denn ich musste gerade im technischen Bereich vieles nachholen." Parallel besucht Boyd die Kooperationsschule und beendet diese mit dem Fachabitur. "Dafür hat es gerade noch gereicht. Wenn ich am Wochenende für die U 19 gespielt hatte und sollte montags zur Schule gehen, habe ich mir oft gedacht: 'Das muss jetzt nicht sein.' Ich kannte das vorher alles in der Form überhaupt nicht. Dazu kam, dass ich mich damals schon selbst entschuldigen durfte, was ich manchmal ganz gut ausgenutzt habe", gesteht er lachend.
Doch immer ist noch nicht sicher, ob der Nachwuchsspieler den Sprung in den Profibereich schafft. "Ich habe in der U 19 und zunächst auch in der U 23 der Hertha meistens nur auf der Bank gesessen, erst in meinem zweiten Jahr bei der U 23 konnte ich mich dann mit Toren empfehlen und durfte auch mit den Profis trainieren."
Es folgt der Wechsel zur U 23 von Borussia Dortmund. In 32 Spielen erzielt der klassische Mittelstürmer 20 Treffer und hat damit maßgeblichen Anteil am Aufstieg in die Dritte Liga. Seine Leistungen bringen ihm eine erste Nominierung von Jürgen Klinsmann für das US-Nationalteam ein. Er wird zum Freundschaftsspiel gegen Italien eingeladen. "Das war ein seltsames Gefühl. Gerade hattest du noch in der Regionalliga West gegen Idar-Oberstein gespielt, und am anderen Tag stehst du dann in Genua gegen Andrea Pirlo auf dem Platz", erinnert er sich an sein erstes von bisher 13 Länderspielen.
Boyd wechselt 2012 zum SK Rapid Wien nach Österreich. Gerade im technischen Bereich holt er auf. "Terrence ist ein Typ, der sich komplett in den Dienst der Mannschaft stellt und sogar dort mit dem Kopf hingeht, wo andere nicht mal den Fuß hinhalten. Er hat oft Sonderschichten eingelegt und ist immer am längsten auf dem Trainingsplatz gewesen", erinnert sich Andreas Müller, einstiger Schalker und zu jener Zeit Manager von Rapid.
Boyd absolviert in zwei Jahren 80 Spiele und erzielt 37 Treffer für den Rekordmeister. "Er hat seine Stärken definitiv im Strafraum, er schließt am liebsten mit dem ersten Kontakt auch direkt ab. Wenn er viele Flanken in den Strafraum bekommt, ist er ein brandgefährlicher klassischer Mittelstürmer. Er ist aber auch charakterlich überragend, er geht immer voran und nimmt die anderen mit. So einen Spieler hat man wirklich nicht alle Tage in seinen Reihen", sagt Müller..
Nach zwei Jahren zieht es ihn zurück nach Deutschland: Ihm liegt eine Offerte von RB Leipzig aus der Zweiten Liga vor. Zwei Wochen vor dem Start der Saison 2014/15 beginnt ein Albtraum. "Ich zog mir zuerst einen Kreuzbandanriss zu, der konservativ behandelt wurde und nach zehn Wochen ausgeheilt war. Nach sieben Spielen folgte die Partie gegen Ingolstadt. Es hatte stark geregnet und der Platz war matschig. Ich dachte, ich ziehe mir besser Stollenschuhe an, anstatt wie sonst auf Gummisohle zu spielen. Bei einer Drehung blieb ich im Rasen hängen und merkte sofort, dass diesmal das andere Knie etwas abbekommen hat." Diagnose: Kreuzbandriss. Geschätzte Pause: sechs Monate.
Der Heilungsprozess verzögert sich, es bildet sich eine Baker-Zyste in der Wade unterhalb des Knies, die bei einem Spezialisten operativ entfernt wird. Das operierte Knie ist mittlerweile völlig genesen, doch die Zyste kommt immer wieder. "Nachdem zum dritten Mal eine Zyste entfernt worden war, bildete sich erneut eine. Diese war jedoch nicht wie die anderen mit Flüssigkeit gefüllt, sondern entzündete sich selbst und wurde zu einem Stück Fleisch. Damals habe ich zum zweiten Mal in meinem Leben, nach dem Tod meines Opas, geweint. Ich dachte, ich würde nie wieder Fußball spielen können." Die vierte Operation findet im Februar 2016 statt, und es war klar: "Wenn das nicht klappt, höre ich auf."
Die Existenzängste des damals angehenden Familienvaters sind groß. "Ich habe mich oft gefragt, wie ich zukünftig meine Familie ernähren soll. Ich habe keine Ausbildung, hatte alles auf die Karte Fußball gesetzt. Zum Glück hat sich Sportdirektor Ralf Rangnick sehr um mich gekümmert und mir einen Job im Verein angeboten. Das rechne ich ihm hoch an."
Tatsächlich steht Boyd in zweieinhalb Jahren nur acht Mal für das Profiteam auf dem Platz, er erzielt dabei drei Treffer. Er beginnt ein Fernstudium in Medien- und Kommunikationswissenschaften. Eine große Stütze ist Lebensgefährtin Jasmine. "Es ist wie immer im Leben, das Schicksal wollte es so. Vielleicht hätte ich meine Freundin ohne die Verletzung nie kennengelernt."
Boyd wird im Juli 2016 Vater einer Tochter und spielt für das Regionalliga-Team. So muss er nicht lange überlegen, als im Januar Torsten Frings anfragt. "Ihm habe ich in meiner Kindheit im Weserstadion zugejubelt, und plötzlich habe ich ihn am Telefon - und soll in seiner Mannschaft spielen. Da hat sich das Kind in mir schon ein wenig gefreut", gibt Boyd zu. "Ich bin aber realistisch genug, um zu wissen, dass ich schon mal besser gespielt habe. Es ist ein laufender Prozess, über die Trainingseinheiten und die Spiele wieder den Rhythmus zu finden, Laufwege zu verinnerlichen und auch mental dauerhaft wieder im Wettbewerbsmodus zu sein." Sein Vertrag gilt auch für die Zweite Liga. "Wir werden bis zum Ende kämpfen. Und sollten wir absteigen müssen, dann wenigstens mit Anstand."
Und wenn Boyd eines gelernt hat in seinem Leben: Es geht auch danach immer weiter.