Donnerstag,
11.07.2019 - 14:30
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"Für mich war das Leben vorbei"

Von Heiko Weissinger
Sportredakteur

Volkan Tekin 2009: Der A-Jugend-Torwart des FSV Mainz 05 wird beim 2:1-Sieg im DM-Finale gegen Borussia Dortmund nur von Mario Götze bezwungen und feiert danach ausgiebig den Titelgewinn im Bruchwegstadion. Fotos: Imago
RÜSSELSHEIM - Um kurz vor halb Zwölf am Abend des 13. Juli 2014 fühlt Volkan Tekin erst eine riesige Freude. Sekundenbruchteile später dann große Trauer und Wehmut. Mario Götze hat gerade in der 113. Minute des WM-Finales gegen Argentinien auf Vorlage von André Schürrle das 1:0 erzielt - "da kam bei mir in einem Moment alles zusammen", erinnert sich der heute 29 Jahre alte Torwart des Fußball-Gruppenligisten SG Rüsselsheim. "Ich habe das Tor bejubelt, dann aber auch sofort gedacht: Mit den Jungs hast Du zusammengespielt. Jetzt sind sie Profis und sogar Weltmeister, und Du spielst in der Verbandsliga beim FV Biebrich."
Mit Kirchhoff, Bell und Schürrle in einem Team
Die Geschichte von Volkan Tekin zeigt, wie nah Triumph und Tragödie im Sport beieinanderliegen - auch zeitlich. Am 28. Juni 2009 wird der in Wiesbaden geborene und aufgewachsene Deutsch-Türke mit dem FSV Mainz 05 durch einen 2:1-Sieg im Finale gegen Borussia Dortmund Deutscher A-Jugend-Meister. Als unumstrittener Stammtorwart an der Seite der späteren Mainzer Profis Jan Kirchhoff, Stefan Bell und eben Schürrle, während das schwarze-gelbe Dress damals Lasse Sobiech (heute 1. FC Köln), Daniel Ginczek (VfL Wolfsburg), Marco Stiepermann (Norwich City) und eben Mario Götze trugen. Es ist der Höhepunkt in Tekins Karriere, die in der Jugend bei DJK Schwarz-Weiß Wiesbaden beginnt, ihn als C-Junior zu den Nullfünfern führt und bis zum größten Erfolg in der Vereinsgeschichte der Mainzer am 28. Juni 2009 nur eine Richtung kennt - nach oben. "Bis zu diesem Tag lief alles super."
Die Richtung ändert sich erstmals zehn Wochen nach dem DM-Endspiel. Am 15. September 2009 steigt ihm im Training mit den Profis Stürmer Felix Borja unabsichtlich aufs Schienbein, Torwarttrainer Stephan Kuhnert und Physiotherapeut Christopher Rohbeck tragen ihn vom Platz. Erste Diagnose: starke Prellung. Doch die erweist sich als Fehleinschätzung, das Torwarttalent fällt monatelang mit einem Riss des Syndesmosebands aus. "Die Verletzung kam genau zum falschen Zeitpunkt, denn ich war gerade auf dem Sprung ins U23-Team. Danach habe ich lange gebraucht, um wieder auf mein altes Niveau zu kommen", erinnert sich Tekin.
A-Jugend-Coach Thomas Tuchel rät ihm von einem Vereinswechsel nach dem Finalsieg gegen Dortmund ab. "Ich hatte einen Vertrag vom türkischen Erstligisten Kayserispor vorliegen, aber er meinte, ich hätte das Potenzial, es bei Mainz zu schaffen." Als Fürsprecher Tuchel, heute Trainer von Paris St. Germain, Anfang August 2009 Jörn Andersen als Trainer des Bundesligateams ablöst, scheint sich Tekin eine Tür in den Profifußball weit zu öffnen, doch nach der schweren Schienbein-Verletzung fällt diese schnell wieder zu und "zehn Jahre geht es fast nur abwärts": Null Einsätze für Mainz 05 II in der Regionalligasaison 2009/10, ein Spiel für Regionalligist SV Wehen Wiesbaden II 2010/11, dann einige Einsätze in der Verbands- und Hessenliga für den SV Wiesbaden und den Verbandsligisten FV Biebrich. "Ich habe immer Gas gegeben, auch Extraschichten im Fitnessstudio geschoben, aber nie eine echte Chance bekommen."
2015 macht Tekin beim rheinhessischen Oberligisten SV Gonsenheim mit starken Leistungen in der Rückrunde auf sich aufmerksam und schafft noch einmal den Sprung in die Regionalliga zur SpVgg Neckarelz. Dort überzeugt er, doch der Verein gerät in finanzielle Turbulenzen und beantragt keine Lizenz mehr für die Vierte Liga. "Du musst manchmal auch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein, und das war ich nicht." Als ein Wechsel in die Zweite Türkische Liga im Sommer 2016 in letzter Sekunde scheitert, beschließt Tekin: "Es reicht, ich ziehe den Schlussstrich. Eine Profikarriere soll nicht sein, das ist mein Schicksal."
Die Enttäuschung war riesig
Während sich der gebürtige Wiesbadener, der heute in Kahl am Main wohnt, bei den Kreisoberligisten SKG Karadeniz Wiesbaden, Türk Gücü Rüsselsheim und SG Rüsselsheim gute Kritiken und ein paar Euro verdient, heilen die Wunden nach der verpassten Bundesliga-Karriere nur langsam. "Für mich war das Leben damals vorbei", erinnert sich Tekin. "Als junger Spieler hatte ich so große Träume und habe eigentlich nur dafür gelebt. Die Enttäuschung war riesig, dass der Traum geplatzt war, und ich bin eineinhalb Jahre in ein Loch gefallen." Wie ist er da rausgekommen? "Mir hat mein muslimischer Glauben geholfen, das zu verarbeiten." Tekin überlegt länger. "Wenn ich den nicht gehabt hätte, wer weiß, was dann passiert wäre."
Doch der Mainzer Meistertorwart von 2009 berappelt sich, fängt mit Bodybuilding an und baut nicht nur Muskelmasse und Gewicht auf (von 80 auf 103 Kilogramm), sondern auch seine berufliche Zukunft. Heute arbeitet der ehemalige Torwarttrainer von Hassia Bingen als Energieberater und Personal Trainer, träumt von einer eigenen Torwartschule. Und er wirkt mit sich im Reinen, wenn er ausführlich und offen über die Schattenseiten seiner Fußballer-Laufbahn spricht. "Ich hatte auch schlechte Berater", sagt der 29-Jährige. "Die haben sich nur um mich gekümmert, wenn es gut lief, in schlechten Zeiten waren sie nicht da."
Ob er auch Fehler gemacht hat? "Sicher. Der größte war meine Unpünktlichkeit. Ich bin immer gerade so rechtzeitig gekommen und manchmal auch zu spät. So etwas kommt in großen Vereinen nicht gut." Außerdem hätte er mehr auf seine Ernährung achten sollen, sagt er selbstkritisch. "Es gab selten geregelte Mahlzeiten und manchmal auch Fast Food."
Letztlich habe aber auch das Glück gefehlt, das einer der Ersatztorhüter der Mainzer A-Junioren von 2009, Christian Mathenia, hatte. "Der wurde bei den Nullfünfern aussortiert, ging nach Darmstadt, stieg auf und war Erstliga-Torhüter." Mathenia spielt nach der Station Hamburger SV heute bei Zweitligist 1. FC Nürnberg, ein anderer Weggefährte aus der Südwestauswahl, Kevin Trapp, in Frankfurt und Paris. "Ihr Talent hatte ich auch, umso bitterer ist das ja, was daraus wurde."
Auftritt im Aktuellen Sportstudio
Was ihm vom 28. Juni 2009 geblieben ist? "Die Erinnerungen an unser Frühstück im Besprechungsraum, wo wir uns eingeschworen haben, an das Einlaufen vor 11 000 Zuschauern am Bruchweg, an die Tore, an die Feier auf dem Platz vor der Tribüne und auf unseren Auftritt im Aktuellen Sportstudio." Und den Platz in den Geschichtsbüchern mit der ersten und einzigen deutschen Jugend-Meisterschaft des FSV Mainz 05 könne ihm auch keiner mehr nehmen.
Im Mai feierte Tekin mit der SG Rüsselsheim den Aufstieg in die siebte Liga. "Das war mal wieder ein richtig schöner Glücksmoment." So wie vor zehn Jahren nach dem Abpfiff des A-Junioren-Finales. Und wie fünf Jahre später nach Mario Götzes Tor zum WM-Titel - nur diesmal ohne bitteren Nachgeschmack.