Fischsuppe und Schiffsparade, Metropolenflair und Naturerlebnisse: Jetzt ist die perfekte Jahreszeit für einen Besuch in Frankreichs ältester Stadt.
Von Claudia Diemar
Die Kirche Notre Dame de la Garde wacht hoch über der Stadt.
(Foto: Claudia Diemar)
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Quai de la Fraternité am alten Hafen, kurz nach neun Uhr morgens: „Warum versucht er abzuhauen?“, kreischt ein kleiner Junge. „Weil er Angst davor hat, abgemurkst zu werden“, erklärt seine Maman unverblümt. Wer denkt, hier spiele sich eine Szene aus den Kriminalromanen von Jean-Claude Izzo ab, irrt gewaltig.
Der Flüchtling war ein gewaltiger Tintenfisch, der aus einem Wasserbecken auf dem allmorgendlichen Fischmarkt entkam, auf das Pflaster platschte, einen Moment lang verdutzt über den Kontakt mit harter Materie blieb, von der Fischerfrau routiniert gegriffen und wieder in das blaue Planschbecken befördert wurde. Einen Meter noch hätte der Krake zum rettenden Hafenbecken gehabt. „Er hat keine Lust gehabt, im Kochtopf zu landen“, hört das Kind die Mutter noch sagen. Man redet ungeschminkt in Marseille. In vielen Sprachen übrigens, in kehligem Arabisch oder mit provenzalischem Dialekt, der die Silben knallen lässt wie die Pétanque-Kugeln im Parc Borély.
Marseille, die älteste Stadt Frankreichs, blickt auf 2600 Jahre Geschichte zurück. Die Griechen nannten es Massalia, die Römer Massilia. Heute dehnt sich Marseille wie das Meer, verstreut seine 850 000 Einwohner auf eine Fläche, die doppelt so groß ist wie Paris. Marseille zählt 16 Bezirke und genau 111 Viertel, die man hier auch „Dörfer“ zu nennen pflegt. Darunter sind so putzige Adressen wie der winzige Hafen Vallon des Auffes mit Fischerbooten und bunten Katen, nur einen Steinwurf von der Küstenstraße Corniche entfernt.
Die Kirche Notre Dame de la Garde wacht hoch über der Stadt. Foto: Claudia Diemar
Kinder in einer Gasse im Altstadtviertel Le Panier. Foto: Claudia Diemar
Blaue Stunde am Hafen Vallon des Auffes, der nur einen Steinwurf von der Küstenstraße Corniche entfernt liegt. Foto: Claudia Diemar
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Ein buntes Durcheinander der Kulturen
Am späten Vormittag sind die Fische vom Markt in den Topf gewandert. Bouillabaisse nennt sich die wichtigste Spezialität der hiesigen Küche. Woher die berühmte Fischsuppe ihren Namen hat? Quand ça bouille… abaisse! „Wenn es kocht, schalte die Hitze runter“, heißt die Grundregel für die Zubereitung dieser Köstlichkeit. Eine echte Bouillabaisse ist heute ein Luxusgut und nicht unter 50 Euro pro Person zu haben. Knurrhahn, Meeraal, Petersfisch, Rotbarben und Seeteufel müssen hinein. Und die kleinen Felsenfische, allen voran die bräunlich-roten Rascasse. Krebse sollten nicht fehlen. Safran, Knoblauch und Fenchelkraut sind ein Muss. Ebenso wie die mit reichlich Olivenöl aufgeschlagene, leuchtend orange Rouille, eine sämige Soße, die man auf harten Brotscheibchen dazu genießt. Das ganze Mittelmeer und seine Genüsse sind so vereint auf einem Teller. Erst wird die Suppe gegessen, dann der Fisch, der in ihr köchelte, separat serviert.
REISE-CHECK
Unterkunft: „La Résidence du Vieux Port“, Traditionshaus mit herrlichem Blick über den alten Hafen, DZ ab 190 Euro, www.hotel-residence-marseille.com. „Les Bords de Mer“, Boutiquehotel direkt neben Strand Anse des Catalans, DZ ab 190 Euro, www.lesbordsdemer.com. „Maison Saint-Louis“, im Zentrum, DZ ab 110 Euro, www.hotel-maison-saintlouis.com. „Mama Shelter Marseille“, junges Haus nahe Cours Julien mit vielen Szenekneipen, DZ ab 80 Euro, www.mamashelter.com/fr/marseille.
Schiffsparade: Am 22. September. Guter Blick darauf vom Jardin du Pharo.
Aber eigentlich ist ganz Marseille eine Bouillabaisse, ein buntes Durcheinander der Kulturen. Man braucht nur auf einen der Märkte zu gehen, um zu erleben, dass sich hier die halbe Welt trifft. Der Marché des Capucins ist nur einen Steinwurf von der Prachtstraße Canebière entfernt, aber Augen, Nase und Ohren meinen, irgendwo in Nordafrika zu sein, in Algier, Tanger oder Marrakesch. In Marseille fühle man eine Vertrautheit „wie täglich geteiltes Brot“ – man könne sich hier niemals fremd fühlen, weil alle Kulturen schon vertreten sind, wusste Bestsellerautor Izzo, der die Stadt ebenso abgöttisch liebte, wie er ihre Abgründe beschrieb.
Die Kirche Notre Dame de la Garde wacht hoch über der Stadt. Der Blick hinunter auf Meer und Metropole ist atemberaubend, reicht hinüber bis zu neuen Büro- und Geschäftsviertel Euroméditerranée im einstigen Niemandsland von Güterbahnhof und altem Handelshafen. Prunkstück des neuen Quartiers ist das Musée des Civilisations d’Europe et de la Méditerranée, kurz Mucem, das erste nationale Museum außerhalb von Paris.
Wie ein filigranes Fischernetz überspannt eine Art Vorhang aus Spezialbeton den spektakulären Bau des Museums für Mittelmeerkulturen. Zwischen diesem anthraziten Spitzenkleid und der gläsernen Fassade führt eine frei zugängliche Rampe in zig Windungen um das Gebäude herum. Ein Fußgängersteg verbindet das Dach des Museums mit dem historischen Komplex der Militärfestung Saint-Jean, von dort führt eine weitere Fußgängerbrücke direkt in das hügelan gestapelte volkstümliche Viertel Le Panier. So verbindet man die Kultur mit dem nächst gelegenen Quartier.
Le Panier ist der malerischste Flecken von Marseille, der einzige Teil der Altstadt, der nicht 1943 von den deutschen Truppen in die Luft gesprengt wurde. Längst haben Künstler das Viertel entdeckt. Uralte Lokale wie der Weinladen „Vin & Crie“ oder die Bäckerei „Navette des Accoules“ haben neue Nachbarn wie Galerien, kleine Restaurants oder einen „Fish Spa“ erhalten. Man kann problemlos allein durch das Panier streifen. Oder man lässt sich dabei von einem Einheimischen wie Gérard Torossian begleiten, der einem die schönsten Ecken zeigt. Gérard ist nämlich „Greeter“. Er zeigt Reisenden kostenlos seine Stadt. Was er an Marseille am meisten liebt? Die Sonne, diese zuverlässige Leuchtkugel des Südens, die selbst dann strahlt, wenn der Mistral pfeift.
Vieux Port am frühen Nachmittag: Man sitzt entspannt auf dem Oberdeck des Ausflugsbootes und sieht die Stadt in Zeitlupe vorbeiziehen. Wenn das Hafenbecken verlassen ist, beschleunigt das Schiff rasant, der Wind trocknet den Schweiß auf der Haut. Nur eine halbe Stunde braucht das Boot zum Archipel du Frioul, der zum Nationalpark der Calanques gehört. Marseille ist die einzige Großstadt Europas, die zu Teilen auf dem Gebiet eines streng geschützten Nationalparks liegt. Die Calanques sind Kalksteinfjorde mit glasklaren, poolblauen Buchten. Im Spätsommer ist das Wasser am wärmsten und die Stadt feiert das Meer beim „Septembre en Mer“ mit einer großen Schiffsparade und zig maritimen Aktivitäten.
Gegen Abend kommen die Hitzeflüchtlinge von ihren Ausflügen zurück in die Stadt, hungrig vom Schwimmen, mit geröteten Nasen und Salzkrusten am Haaransatz. Zur blauen Stunde gabelt jemand Tintenfisch auf. Frisch vom Grill, mit Olivenöl und Kräutern der Provence. Rund um den Vieux Port gehen die Lichter an, schimmern doppelt, zu Lande und zu Wasser. Es ist Zeit für einen Pastis.