Ein Haus im Londoner Stadtteil Spitalfields beherbergt ein ganz besonderes Museum. Besucher werden ins 18. Jahrhundert zurückversetzt und lernen das Leben der Seidenweber kennen.
Von Ute Strunk
Reporterin Politik
Foto: Roelof Bakker
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Im strömenden Regen steht ein Mann mit einem Schirm vor dem Eingang. Ansonsten gibt es keinen Hinweis, kein Schild, das zeigt, dass wir hier richtig sind. Dennis Severs’ Haus im Londoner Stadtteil Spitalfields ist eines in einer ganzen Reihe von Gebäuden mit roter Backsteinfassade in der Folgate Street – das mit der Nummer 18. Die Häuser sehen alle mehr oder weniger gleich aus: Im Erdgeschoss zwei hohe Fenster neben einer schmalen Eingangstür, in den drei Stockwerken darüber jeweils drei schmale Sprossenfenster. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite gibt es einen Pub.
Wir fragen den Mann mit dem Schirm, und er bestätigt: Das ist es. Der Mann kassiert den Eintritt und gibt uns noch einige Anweisungen, bevor wir das Haus betreten: keine Fotos, nicht sprechen und nichts berühren. Wir ahnen nicht, dass uns das gar nicht so leicht fallen wird. Denn Dennis Severs’ Haus ist eine Art Zeitkapsel, die uns zunächst ins 18. Jahrhundert zurückversetzt.
Beim Rundgang erlebt man das Schicksal der Generationen
Draußen dämmert es bereits und im Haus empfängt uns eine schummrige Dunkelheit. Im Schein vieler Kerzen steigen wir hinab in den Keller. Dort befindet sich die Küche, in der es gemütlich warm ist. Ein Feuer lodert in der Feuerstelle, auf dem Tisch liegt Gemüse, im Spülstein stapelt sich Geschirr. Nah am Fenster hört man Hufgeklapper und das Rumpeln vorbeifahrender Züge, eine Stimme sagt: „Wir brauchen noch etwas Treibstoff.“ Es ist, als seien die Bewohner eben erst aus dem Zimmer gegangen – kurz bevor wir eingetreten sind.
Der Künstler Dennis Severs hat in seinem Haus in der Londoner Folgate Street ein Bild des 18. Jahrhunderts kreiert. Foto: Ute Strunk
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Und genau das ist Absicht. Dennis Severs’ Haus ist eine Art Museum, in dem das Leben einer Familie hugenottischer Seidenweber von 1724 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt wird. Beim Rundgang durch die zehn Zimmer erlebt man quasi das Schicksal der Generationen mit. Und in jedem Raum ist es so, als wären die Bewohner noch anwesend, als seien sie nur mal kurz hinausgegangen. Man hört noch ihre Stimmen, riecht noch das Feuer im Kamin und den Tee, der in der Tasse dampft, sieht noch die Kerzen, die auf dem Tisch flackern.
Salon und Esszimmer im Erdgeschoss zeugen von längst vergangenen guten Zeiten. Vor den Fenstern hängen üppige Vorhänge aus Brokatstoff, in den Schränken stapelt sich feines Geschirr und Silberzeug. Auf dem Kaminsims steht jede Menge Nippes. Es ist überwältigend, was es hier alles zu sehen gibt. Doch halt: bloß nichts anfassen! Je weiter man über die verschiedenen Stockwerke nach oben in Richtung Dach kommt, umso kälter und zugiger wird es. Die Einrichtung wirkt verschlissen, Putz bröckelt von den Wänden, die Bewohner scheinen sichtlich ärmer zu sein. Ganz oben unter dem Dach hören wir das dumpfe Donnern von Kanonen: Es ist der Tag, an dem die 18-jährige Victoria Königin von England wird. Zu dieser Zeit geht es den Seidenwebern in der Folgate Street längst nicht mehr so gut wie noch vor rund 100 Jahren.
REISE-CHECK
Dennis Severs House: Silent Night (Stille Nacht), jeden Montag, Mittwoch und Freitag von 17 – 21 Uhr, Eintritt 15 Pfund/Person, Online-Anmeldung unter www.dennissevershouse.co.uk.
Auskunft: www.visitbritain.de.
Wir sollen nichts anfassen und doch überlegen wir, ob wir es nicht heimlich wagen sollen: In einem Himmelbett liegt nämlich eine Katze. Und die ist so täuschend echt, dass man doch mal prüfen muss, ob sie lebt. Die Decke ist zurückgeschlagen, das Laken zerknüllt, als sei jemand gerade eben erst aufgestanden – und die Katze liegt ganz reglos. Ob sie wohl ausgestopft ist? Da bewegt sie ganz sacht die Ohren. Es muss eine echte Katze sein, oder ist es nur eine sehr gut gemachte batteriebetriebene Attrappe? Wir trauen uns einfach nicht, das Tier anzufassen – und im nächsten Augenblick haben wir auch keine Gelegenheit mehr, denn eine Aufseherin kommt herein und ermahnt uns streng: Nichts anfassen!
Dennis Severs’ Haus ist ein Tipp für London-Besucher, die all die berühmten Sehenswürdigkeiten schon kennen – oder für solche, die auf der Suche nach Geheimtipps sind. Das Haus ist eine Art Gesamtkunstwerk, das vom Künstler Dennis Severs (1948 – 1999) geschaffen wurde. Dieser hatte das Haus Ende der 1970er-Jahre gekauft und inmitten seines Museums gelebt – ganz so wie es vermutlich die Seidenweberfamilie Jervis im frühen 18. Jahrhundert getan haben muss, von deren Leben er erzählt. Seine Idee: Den Besuchern einen seltenen Moment zu bieten, in dem sie sich in einer anderen Zeit verlieren. So ist es ihm gelungen, ein lebensnahes Bild des 18. Jahrhunderts zu kreieren, das von all den Gerüchen und Geräuschen dieser Zeit – vom rauchigen Licht, von knarrenden Schritten, vom Hufgeklapper, Kanonendonner und Ticken der Uhren – erfüllt ist.