Notfall Sepsis: Tödlicher als ein Herzinfarkt

aus Gesundheit

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Bei einer Sepsis schafft es die Abwehr nicht, die Ausbreitung einer lokalen Infektion zu verhindern und die Erreger dringen in den Blutkreislauf ein.
© Artur - stock.adobe.com

Mindestens 85.000 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr an einer sogenannten „Blutvergiftung“ – die Warnhinweise sind aber vielen nicht bekannt. 

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Berlin. Als die Mit-Drehbuchautorin des Erfolgsfilms „Keinohrhasen“ 2010 nach einer unerkannten Nierenbeckenentzündung eine Sepsis erlitt und auf der Intensivstation um ihr Leben rang, war sie 35 Jahre alt. Acht Tage lang lag Anika Decker damals im künstlichen Koma. Danach „kann man noch nicht einmal mehr einen Löffel halten.“ In ihrem Buch „Wir von der anderen Seite“ hat die gebürtige Marburgerin 2019 diese Erlebnisse schließlich in Romanform veröffentlicht. Sie erzählt davon, wie ihre Hauptfigur mit ihren Beschwerden zunächst abgewimmelt wurde, vom Schock nach dem Aufwachen aus dem Koma – und vom langen Weg zurück ins Leben. Ein Weg, der auch bei ihr viele Monate gedauert hat.

Mittlerweile ist Decker eine der prominentesten Personen, die sich um mehr Aufmerksamkeit für die Sepsis bemühen. Eine Erkrankung, an der laut der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) in Deutschland durchschnittlich alle sechs Minuten ein Patient stirbt. Die Sepsis ist damit eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland: Doppelt so viele Menschen versterben im Krankenhaus an einer sogenannten Blutvergiftung wie an einem Schlaganfall und Herzinfarkt gemeinsam. Das Problem: Die Diagnose wird häufig zu spät gestellt. So gefährlich die Erkrankung ist, so wenig sind die Symptome und Warnhinweise vielen Menschen bekannt.

Ich habe mich gefühlt wie eine Kerze, die auf dem Tisch brennt und jemand stellt eine Glashaube darüber. Und so ganz langsam gehen die Lebenslichter aus – und zwar vollumfänglich. 

TB
Thomas Bauer, 61 Jahre deutschland-erkennt-sepsis.de

Was ist eine Sepsis?

Mindestens 230.000 Patienten erkranken pro Jahr in Deutschland an einer Sepsis. Sie ist die schwerste Verlaufsform einer Infektion, bei der die körpereigene Abwehr komplett außer Kontrolle gerät. Ausgangspunkt ist immer eine bestehende lokale Infektion im Körper, bei der die körpereigene Abwehr es nicht schafft, deren Ausbreitung zu verhindern, sodass die Erreger in den Blutkreislauf des Patienten eindringen können. Dadurch kommt eine Kettenreaktion in Gang, die Herz, Niere, Leber und Lunge schwer beschädigen kann. „Gerade bei dieser schwersten Verlaufsform mit Multiorganversagen und Schock ist die Sterblichkeit auch heute noch immens hoch, sodass wir nahezu jeden zweiten Patienten verlieren“, so Thorsten Brenner, Sprecher der Divi-Sektion Systemische Inflammation und Sepsis. Umso wichtiger sei es, auf die Frühwarnsymptome einer Sepsis zu achten. Umgangssprachlich wird bei einer Sepsis von einer „Blutvergiftung“ gesprochen, auch wenn es sich dabei nicht um eine „Vergiftung“ im herkömmlichen Sinne handelt.

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Die Drehbuch- und Roman-Autorin Anika Decker.
Die Drehbuch- und Roman-Autorin Anika Decker.
© Edith Held

Ich möchte nie wieder solche Schmerzen erleben, mich so ausgeliefert und hilflos fühlen.

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Anika Decker Autorin, zu ihrer Erkrankung

Woran erkennt man eine Sepsis?

Die Symptome sind manchmal gar nicht so einfach zu deuten. Aber diese sechs Anzeichen für eine Sepsis sollte man ernst nehmen – vor allem, wenn bereits vorher ein lokaler Infekt vorlag, eventuell mit Fieber und Schüttelfrost:

  • ein nie gekanntes, schweres Krankheitsgefühl

  • Müdigkeit, Apathie

  • plötzlich auftretende Verwirrtheit

  • schnelle, schwere Atmunge

  • erhöhter Puls und niedriger Blutdruck

  • kalte, fleckige Haut an Armen / Beinen

Man merke einfach, dass gerade irgendetwas überhaupt nicht stimme. „Dass man dem Tod nah ist, irgendwie spürt man das“, beschreibt ein Patient das Gefühl. „Ich habe mich noch nie so krank gefühlt“, ist ein weiterer Satz von Betroffenen, den man immer wieder hört. Laut Sepsis-Stiftung basiert die Diagnose einer Blutvergiftung auf den folgenden zwei wichtigen Punkten. Erstens dem Nachweis oder dem Verdacht auf eine Infektion und zweitens den Anzeichen für „eine akut auftretende Organfunktionsstörung, die fern vom Infektionsort auftritt“. Also wenn zum Beispiel zusätzlich zum Infekt Verwirrung, Atemnot, ein Blutdruckabfall oder ein Kreislaufschock eintritt. Manchmal kann der Ausgangspunkt einer Sepsis auch zunächst banal wirken. Und dann muss es trotzdem schnell gehen, wenn zu der Schürfwunde auf einmal Übelkeit kommt oder der entzündete Mückenstich am Bein auf einmal dafür sorgt, dass die Luft wegbleibt.

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Wie entwickelt sich eine Sepsis?

Etwa 80 Prozent aller Sepsis-Fälle entstehen außerhalb des Krankenhauses. Sie können durch Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten (etwa beim Malaria-Erreger) verursacht werden. Die Patienten haben ursprünglich einen Atemwegsinfekt (wie Grippe oder Covid-19) oder aber einen Infekt des Magen-Darm-Traktes, der Harnwege, der Haut oder von Wunden. Die Sepsis zeigt sich häufig als akute Verschlechterung der vorhandenen Infektion. Im Frühstadium ist eine Sepsis jedoch noch umkehrbar.

Was ist bei der Behandlung wichtig?

Eine Sepsis ist immer ein Notfall. Je früher sie behandelt wird, desto höher sind auch die Überlebenschancen. Die Behandlung auf der Intensivstation kann bei schweren Fällen mehrere Wochen dauern, nicht selten müssen die Patienten in ein künstliches Koma versetzt werden. Das Wissen um die Erkrankung fehlt allerdings häufig – sowohl in der Bevölkerung als auch im Notdienst oder bei niedergelassenen Ärzten. In Erfahrungsberichten von Sepsis-Patienten ist häufig die Rede davon, dass ihre Erkrankung zunächst nicht ernst genommen wurde und sie stattdessen zunächst abwarten sollten. Gerettet wurden sie dann, weil ihre Freunde oder Angehörigen schließlich selbst den Rettungswagen gerufen haben. Auch sterben in Deutschland noch immer mehr Menschen an einer Sepsis als in anderen Ländern. Die Krankenhaussterblichkeit bei einer schweren Sepsis liegt in Deutschland bei 42 Prozent. Im Vergleich zu England (32 Prozent), den USA (23 Prozent) oder Australien (18 Prozent) ist dies auffallend hoch. Mit dem Welt-Sepsis-Tag am 13. September versuchen daher verschiedene Organisatoren das Thema stärker ins Bewusstsein zu rufen.

Ein Patient wird auf der Intensivstation behandelt. Die Krankenhaussterblichkeit bei einer Sepsis ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern auffallend hoch.
Ein Patient wird auf der Intensivstation behandelt. Die Krankenhaussterblichkeit bei einer Sepsis ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern auffallend hoch.
© Ole Spata/dpa

Müdigkeit, Alpträume, Organschäden: Die Spätfolgen dauern noch lange an

Weist ein blauer Strich auf eine Blutvergiftung hin?

Ein hartnäckiger Irrglaube ist zudem, dass man eine Blutvergiftung an einem blauen oder roten Strich erkennt, der von einer Wunde in Richtung Herzen führt. Ein solcher Strich weist vielmehr auf eine entzündete Lymphbahn hin. Allerdings sollte man auch diese ärztlich behandeln, da sich hieraus – wie bei anderen Infektionen auch – eine Blutvergiftung entwickeln könnte.

Welche Spätfolgen hat eine Sepsis?

Rund 75 Prozent der Patienten, die eine Sepsis überlebt haben, leiden danach an Spätfolgen. Diese können Seh- und Sprachstörungen sein, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder Depressionen. Aber auch die Organe können noch weiter geschädigt sein. Und mitunter müssen bei Patientinnen oder Patienten infolge einer Sepsis Teile der Finger und Füße amputiert werden. Darüber hinaus berichten frühere Sepsis-Betroffene von Alpträumen und Traumwiederholungen aus der Komazeit. Bei zirka 20 Prozent der Patienten trete eine sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung nach der Intensivtherapie auf. Auch Anika Decker hatte lange Zeit noch mit massiven Spätfolgen ihrer Sepsis zu kämpfen. Bis sie ganz wieder hergestellt gewesen sei, habe es insgesamt zwei Jahre gedauert. „Ich möchte nie wieder solche Schmerzen erleben, mich so ausgeliefert und hilflos fühlen“, blickt sie in der „Zeit“ auf ihre schwere Erkrankung zurück.