Die Weltgesundheitsorganisation hat den künstlichen Süßstoff Aspartam als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft. Wie Experten das Risiko einschätzen.
Berlin. Cola und Limonade „light“ liegen im Trend: 1,45 Milliarden Liter Cola, Colamischgetränke und Limonade in der zuckerfreien Variante wurden im Jahr 2020 in Deutschland hergestellt – gut ein Viertel mehr als zehn Jahre zuvor. Damit war zuletzt im Schnitt jede fünfte Cola oder Limonade eine „light“.
Umso mehr verunsichert sind die Verbraucher aufgrund einer aktuellen Neubewertung der Internationalen Krebsforschungsagentur (IARC) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat den Süßstoff Aspartam für Menschen jetzt als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft. Die neue Bewertung kommt für viele Experten überraschend – insbesondere wegen der limitierten Datenlage. Denn die Einschätzung der IARC basiert nur auf drei Studien, die einen nicht eindeutigen positiven Zusammenhang zwischen dem Konsum von künstlich gesüßten Getränken und dem Leberkrebsrisiko festgestellt haben.
Hinweise aus Tierstudien aber keine klaren Beweise
Vernachlässigt werde auch die Tatsache, „dass Aspartam in der Realität kaum je als Einzelsubstanz konsumiert wird“, sondern in Kombination mit anderen Süßstoffen. Dadurch „erscheint eine Einzelbewertung schwierig“, beurteilen Bettina Wölnerhanssen und Anne Christin Meyer-Gerspach, Co-Leiterinnen metabole Forschung vom St. Claraspital in Basel, die Einstufung der IARC.
Die beiden Wissenschaftlerinnen erläutern, wie die IARC in ihren Einschätzungen und Bewertungen von verschiedenen Substanzen zwischen vier Stufen der wissenschaftlichen Evidenz zum Krebsrisiko unterscheidet: In der ersten Stufe „definitiv krebserregend“ seien zum Beispiel Tabakrauch, Asbest, radioaktive Strahlung und Alkohol eingeordnet. Zur zweiten Stufe „wahrscheinlich krebserregend“ zählen zum Beispiel heiße Getränke über 65 Grad Celsius, rotes Fleisch und Glyphosat. „Die dritte Stufe, in die nun neu Aspartam aufgenommen wurde, ist noch sehr vage: Es gibt Hinweise aus Tierstudien, aber noch keine klaren Beweise und wenige Humanstudien mit ebenfalls limitierter Aussagekraft“, so die Schweizer Wissenschaftlerinnen. Zur vierten Stufe zählen Stoffe, bei denen es zu wenig Evidenz gibt, um eine Aussage machen zu können.
9 bis 14 Dosen Softdrinks pro Tag
Der Sachverständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe der WHO (JECFA) komme daher auch zu einer anderen Einschätzung als die IARC. „Die JECFA hält die Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Krebsentstehung und Konsum von Aspartam für ungenügend und behält die empfohlene tägliche Maximaldosis von 40 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht bei. Eine sehr hohe Dosis, die von einem Durchschnittskonsumenten kaum je erreicht wird“, sagen Wölnerhanssen und Meyer-Gerspach.
Bereits seit Anfang der 1980er-Jahre, als erstmals der Verdacht aufkam, Aspartam könnte Krebs erregen, stuft die JECFA den Verzehr innerhalb dieser akzeptierten Tagesmengen als sicher ein. Demnach müsste ein 70 Kilogramm schwerer Erwachsener mehr als neun bis 14 Dosen Diät-Softdrinks pro Tag konsumieren, um diesen Wert zu überschreiten.
Jürgen König, Leiter des Departments für Ernährungswissenschaften der Universität Wien, hält diese immer wieder genannten Aufnahmemengen eines künstlich gesüßten Softdrinks zur Überschreitung der maximalen Tagesdosis allerdings für problematisch: „Dieses Modell vermittelt den Eindruck, die Hauptaufnahmequelle für Aspartam wären diese künstlich gesüßten Getränke, in vielen Altersgruppen sind aber andere Lebensmittelgruppen die Hauptlieferanten, das sollte zumindest erwähnt werden.“
Umstieg auf Zucker würde Krankheitsrisiken verstärken
Dass die IARC/WHO mit ihrer Empfehlung wahrscheinlich hauptsächlich ein Zeichen setzen möchte, das die Konsumenten dazu animiert, möglichst Wasser und ungesüßte Tees zu trinken, vermuten die beiden Wissenschaftlerinnen aus der Schweiz. Um den „Zuckerkonsum drastisch zu reduzieren, dabei aber Süßstoffe nur in Maßen zu konsumieren“.
„Es bleibt zu hoffen, dass die neue Einstufung besonnen aufgenommen wird und Konsumenten nicht dazu bringt, von Süßstoffen auf Zucker umzusteigen“, sagt Stefan Kabisch, Studienarzt in der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin am Deutschen Zentrum für Diabetesforschung in Berlin. „Es gibt keinen soliden Grund, Süßstoffe aktiv zu vermeiden, aber auch keinen Grund, Süßstoffe aktiv zu empfehlen. Der Nutzen ist gering, der Schaden nicht klar nachweisbar“, so Kabisch. Für Zucker sei hingegen deutlich klarer belegt, dass er neben Karies auch Adipositas und Typ-2-Diabetes fördert und somit zum Krebsrisiko beiträgt. Ein Umstieg von Süßstoffen auf Zucker würde sicherlich Krankheitsrisiken verstärken.