Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor setzt sich in ihrem Gastkommentar mit der aus ihrer Sicht nutzlosen Bezeichnung "Migrationshintergrund" auseinander.
. Und welchen "Migrationshintergrund" haben Sie? Keinen! Sind Sie sich sicher? Vielleicht schauen Sie noch mal in Ihren Stammbaum. Sollten Sie fündig werden - weil ein in Vergessenheit geratener Vorfahre doch ins heutige Deutschland eingewandert ist, was wäre dann? Würde sich etwas für Sie ändern?
Natürlich nicht. Der Migrationshintergrund spielt keine Rolle für Menschen, die in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Die Bezeichnung ist daher ersatzlos zu streichen. Sie erfüllt keinen Zweck, außer den, Menschengruppen abzugrenzen. Ein Zeichen dafür ist die Verballhornung des Begriffs vor allem durch völkische und rechtsextreme Kreise, die etwa von "Mihigrus" sprechen.
Der "Migrationshintergrund" wurde vor 15 Jahren aus statistischen Erwägungen eingeführt - als Ordnungskritierium für die Bevölkerung. Er galt fortan als das feinere Wort für "Ausländer" bzw. für "Gastarbeiter" oder auch "Kanaken". Diese Form der Unterteilung der Bevölkerung ergibt aber zunehmend keinen Sinn. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Jeder Vierte hat einen sogenannten Migrationshintergrund; bei den Jüngeren schon jeder Dritte. Es gibt Deutsche und es gibt Einwanderer, die aktiv die Grenzen dieses Landes überschritten haben. Punkt.
Das Herbeifantasieren biologistischer Kriterien und menschlicher Rassen zündet in der seriösen Wissenschaft schon lange nicht mehr, in der Gesellschaft konzentriert es sich auf das AfD-Umfeld. Forderungen wie jene, Eltern und Großeltern müssten hier geboren sein, um zum deutschen Volk zu zählen, laufen de facto ins Leere.
Sinti und Roma, Hugenotten, Polen und andere erfüllen sie schon lange. Längst trifft sie auch auf die ersten "Gastarbeiter" etwa aus der Türkei zu, die bereits in vierter Generationhier leben. Trotzdem kämen Völkische nie auf die Idee, solche Menschen zum deutschen Volk zu zählen. Die Kriterien sind daher konstruiert, einer kritischen Überprüfung halten sie nicht stand.
Für Nachkommen von Einwanderern wie mich gibt es weder besondere Rechte noch besondere Pflichten. Es gilt für mich das gleiche wie für jene, die mich eine Ausländerin nennen wollen. Sie haben keine Vorrechte mir gegenüber.
Ich weise schon seit Jahren darauf hin. Jüngst zog die Fachkommission Integrationsfähigkeit der Bundesregierung nach. Sie überreichte der Kanzlerin einen Abschlussbericht. Darin plädiert auch sie nun für die Abschaffung des Begriffs "Migrationshintergrund".
Manche fragen sich dabei, warum angeblich "immer nur" türkisch- und arabischstämmige Menschen in diesem Kontext zu vernehmen seien. Es liegt zum einen daran, dass ihnen das Deutschsein besonders vehement abgesprochen wird. Zum anderen liegt es daran, dass türkische oder arabische Nationalisten ihnen ebenso einreden, sie seien keine Deutschen. Ferner meinen gerade Jüngere, wenn sie sich im Sinne der deutschen Rechten als "Türken" oder "Araber" bezeichnen, hätten sie weniger Identitätsprobleme, mithin weniger Stress. Dabei wissen sie genau, im Herkunftsland ihrer Familien werden sie gleichsam als "Ausländer" gesehen.
Bis heute prägt die NS-Rassenlehre noch bei vielen Menschen - oft unbemerkt - die Sichtweise auf die Staatsangehörigkeit: Deutsch ist, wer deutsches Blut hat. Dabei haben Genetiker und Historiker längst bewiesen, dass es "die" Deutschen ebenso wenig als homogene ethnische Einheit gab wie "die" Germanen oder "die" Wikinger.
Auf den ersten Blick scheinen es da Länder wie die USA einfacher zu haben: Der Bezeichnung "Amerikaner" lag nie ein völkisches Verständnis zugrunde. Es gibt in den USA Menschen unterschiedlichster Herkunft, und alle können Amerikaner sein. Eigentlich ist es doch auch mit dem Begriff "Deutsche" gar nicht so viel anders. Wir müssen es nur leben.
Von Lamya Kaddor