Unterschätzte Gefahr: Adipositas immer noch nicht ausreichend als Krankheit anerkannt
Von Laura Jung
Die Volkskrankheit Adipositas und ihre Folgeerkrankungen stellt Gesellschaft und Gesundheitssystem vor große Probleme. Archivfoto: dpa
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OFFENBACH/WIESBADEN - Wer sich auf der Straße umschaut, der ist wahrscheinlich schon selbst darauf gekommen: In Europa hat sich die Zahl der übergewichtigen Menschen in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Nach aktuellen Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden im Jahre 2030 über 50 Prozent der Europäer übergewichtig sein, also mehr als die Hälfte und damit jeder Zweite!
Schwerwiegende Folge- und Begleiterkrankungen
Dr. Sonja Chiapetta, Oberärztin im internationalen Adipositaszentrum am Sana Klinikum Offenbach, beklagt: „Es besteht leider in der Bevölkerung, aber auch bei einem Teil der Betroffenen, ein Informationsdefizit über die schwerwiegenden Folge- und Begleiterkrankungen von Adipositas. Das Verständnis der Krankheit als komplexe und chronische Erkrankung mit einhergehender Diabetes, Bluthochdruck und Krebserkrankungen ist zu gering.“
Zudem sei die Situation für Betroffene und Ärzte in Deutschland ausgesprochen unglücklich: Die Regelungen, wann die Krankenkassen welche Kosten für eine Adipositasbehandlung übernehmen, seien regional extrem unterschiedlich und die Bewilligungsverfahren unnötig langwierig und oft unergiebig. Das führe in manchen Fällen sogar zu massiven gesundheitlichen Gefahren für die Betroffenen und zu hohen Folgekosten für das Gesundheitssystem.
WELCHES GEWICHT IST NOCH GESUND?
Adipositas ist definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. Sie gehört zu den größten Volkskrankheiten des 21. Jahrhunderts.
Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Körpermassenindex, der sogenannte Body Mass Index (BMI). Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m²).
Beispiel: Der BMI eines 1,85 m großen Mannes mit 95 kg beträgt 27,8 kg/m² (übergewichtig).
Übergewicht ist definiert als BMI ≥ 25 kg/m2, Adipositas als BMI ≥ 30 kg/m2, Untergewicht als BMI < 18,5 kg/m2, Normalgewicht BMI 18,5 – 24,9 kg/m2 (Quelle: WHO, 2000).
Die Gesamtsituation ist für Professor Rudolf Weiner, Chefarzt am Adipositaszentrum Offenbach, inakzeptabel: Obwohl verschiedene Fachgremien ein Stufenkonzept zur Behandlung der Adipositas entwickelt hätten, sei die Umsetzung einer flächendeckenden Behandlung des Krankheitsbildes derzeit nicht möglich. „Alle Patienten mit einem BMI ab 35 müssten bei vorliegenden relevanten Folgeerkrankungen auch eine Operation als Option wählen können. Bei einem BMI von 40 und mehr sogar in jedem Fall.“ Dabei sei die oft geforderte „multimodale“ Therapie, also die Kombination aus Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und psychologischer Betreuung unter ärztlicher Aufsicht über eine Dauer von sechs Monaten, bereits die erste Hürde für Betroffene. Denn viele Patienten hätten keinen Zugang zu einer solchen Therapie, obwohl diese im Anfangsstadium noch vielversprechend wäre.
Für Weiner heißt das: „Dem Krankheitsbild können wir so nicht frühzeitig entgegenwirken, eine weitere Gewichtszunahme ist die sichere Folge und entspricht dem zu erwartenden Verlauf dieser Erkrankung.“ Weiner stellt einen grundsätzlichen Mangel an Behandlungsangeboten fest: „Es fehlen Schwerpunktpraxen, und es stehen nur unzureichend Therapieplätze als Kassenleistung zur Verfügung.“ Einen großen Teil der Kosten müssten – auch einkommensschwache – Betroffene selbst tragen.
Das Gesundheitsamt in Wiesbaden sieht ebenfalls Handlungsbedarf und setzt auf Prävention, um Kindern gesunde Ernährung und Bewegung frühzeitig näherzubringen. Beim Projekt „Naschgärten in Schulen“ werden Beete angelegt, die die Schüler mit Obst, Gemüse und Kräutern bepflanzen.
Gesundheitsämter setzen auf Prävention
„Inwiefern sich Übergewicht und Adipositas dadurch beeinflussen lassen, bleibt abzuwarten. Uns ist jedoch bei diesen Projekten auch das Schaffen einer Verbundenheit mit anderen, der Natur und die Stärkung von gemeinsamer Verantwortung wichtig“, sagt Dr. Kaschlin Butt, Leiterin des Gesundheitsamtes Wiesbaden.
In den letzten Jahren falle ihr bei Schulvorsorgeuntersuchungen für Kinder auf, dass neben starkem Übergewicht auch Untergewicht zunehmend ein Thema sei. Ebenso bereitet Fehlernährung, zum Beispiel aufgrund von Unverträglichkeiten, den Gesundheitsämtern Sorge. Hier weist das Gesundheitsamt Eltern dringend darauf hin, dass „Diäten“ für Kinder und Jugendliche nur nach fachärztlicher Diagnostik und Beratung erfolgen dürfen.