Mittwoch,
20.11.2019 - 00:00
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Neuanfang mit belasteten Demokraten

Von Christoph Cuntz
Redakteur Politik

Meldebögen der Spruchkammern zur Entnazifizierung. Das kleine Foto zeigt Frank Seiboth. (Fotos: dpa/ Lili Gwosdz)
WIESBADEN - Wie stark hat die NS-Vergangenheit die Nachkriegsgeschichte Hessens geprägt? War der Demokratisierungsprozess trotz der NS-Belastung einiger Politiker möglich geworden? Oder vielleicht sogar wegen deren Belastung? Das sind Fragen, denen Sabine Schneider nachgegangen war, die in ihrer Doktorarbeit elf Biografien hessischer Landtagsabgeordneter, die in der Nachkriegs-Ära in politische Verantwortung gekommen waren, untersucht hat. „Belastete Demokraten“ heißt ihre mehr als 500 Seiten starke Studie, die jetzt im Auftrag des Landtages herausgegeben worden ist, die aber erst im kommenden Jahr öffentlich vorgestellt werden soll. Schneiders Arbeit hat insoweit Aktualitätswert, als sie erforscht hat, wie die noch junge Demokratie Rechtsextremisten integriert hat.
Als die Studie vor fünf Jahren in Auftrag gegeben worden war, galt sie noch als ein in Deutschland einmaliges Projekt. Angesehene Wissenschaftler wie der Marburger Historiker Eckart Conze hatten die Federführung übernommen. Und der Landtag selbst hat Schneiders Arbeit finanziell gefördert.
Das Ende des 2. Weltkriegs war auch in Hessen keine Stunde Null. Es gab keinen klaren Schnitt, den die neue, demokratisch gesinnte Führung vollzogen hätte, um endgültig Schluss zu machen mit der NS-Vergangenheit. Die Zeit war dafür noch nicht reif: Umfragen aus den ersten Nachkriegsjahren hatten ergeben, dass eine Mehrheit „eine Beendigung der politischen Säuberungen verlangte, die von vielen als Siegerjustiz begriffen wurden“, schreibt Sabine Schneider. In diesen Jahren sei eine NS-Belastung vielleicht sogar hilfreich bei der politischen Karriere gewesen, so ihre provokante These sie. Denn: Ein NS-belasteter Politiker konnte mehr Gemeinsamkeiten mit seinen Wählern aufweisen und wirkte daher volksnäher als ein ins Exil geflohener oder im Konzentrationslager inhaftierter Politiker.
Und so konnte – mit kurzer Unterbrechung – ein NS-belasteter Politiker wie Frank Seiboth seine Karriere fortsetzen. Der einstige SS-Hauptsturmführer ist die vielleicht schillerndste Figur unter den elf hessischen Abgeordneten, deren Biografien Sabine Schneider untersucht hat. In Sudetendeutschland aufgewachsen, hatte er sich bis 1945 „freudig zu Hitler bekannt“, wie der Spiegel in den 60er Jahren schrieb. Den Vorwurf, „Vollstrecker nationalsozialistischer Gewaltpolitiker“ gewesen zu sein, habe er mit dem Argument pariert, er sei nur „Zufalls-Nationalsozialist gewesen“.
Seiboth war nach dem Krieg Mitglied des BHE geworden, des Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten, dessen Bundesvorsitzender er 1958 bis 1961 war. In keiner anderen Partei hatte es mehr NS-belastete Abgeordnete gegeben. Deren Anteil lag bei 68,6 Prozent. Seiboth, der von 1958 bis 1966 im Landtag saß, war auch nach 1945 im Witikobund aktiv, den Schneider eine „Seilschaft ehemaliger Nationalsozialisten“ nennt. Sie sieht ihn in jener Kategorie von Nachkriegs-Politikern, die Gefühle wie Scham oder Reue „nicht oder höchstens andeutungsweise erkennen“ ließen. Stattdessen habe er seine NS-Vergangenheit neu interpretiert und sich zum Sozialisten stilisiert.
Mit Alfred Dregger ging es für die CDU bergauf
Auch unbelastete Politiker hatten damals an die Regierung, an Unternehmen und Bürger appelliert, frühere Nationalsozialisten zu integrieren. „Dass dies zugleich ein unsensibler, moralisch fragwürdiger Umgang mit NS-Opfern war, interessierte viele nicht“, so die Autorin.
Trotz alledem bildete ausgerechnet Ministerpräsident Georg-August Zinn (SPD) von 1954 bis 1962 eine Koalition mit dem BHE. Die Landesregierung scheute sich nicht, den früheren SS-Mann zum Geschäftsführer der hessischen Staatlichen Sportwetten GmbH zu befördern. „Im Gegenzug empfahl Seiboth den Vertriebenen bei der Bundestagswahl 1965, ihr Kreuz bei der SPD zu machen“, heißt es der Studie „Belastete Demokraten“. Und als Seiboth später in die SPD eintrat, stieg er sogar zum Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium auf.
Die SPD war in den 50er und 60er Jahre die klar dominierende Kraft in Hessen. Die Hessen-CDU hingegen, anfangs von ehemaligen Widerstandskämpfern geführt und geprägt, hatte es in diesen Jahren schwer. Ihr damals schlechtestes Ergebnis erzielte sie 1966, als die NPD mit 7,9 Prozent und acht Abgeordneten in den Landtag zog. Danach war Alfred Dregger zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Unter ihm habe die CDU einen deutlich konservativeren Kurs eingeschlagen. „Soziale Ziele wurden weniger wichtig, Rechtsextremismus wurde von CDU-Abgeordneten nicht als reale Gefahr wahrgenommen“. Die Kursänderung habe dazu beigetragen, dass die CDU wieder attraktiver geworden sei für nationalkonservative Wähler, schreibt Sabine Schneider. Folge: 1970 erreichte die CDU ihr bis dahin bestes Nachkriegsergebnis. Und die NPD flog wieder aus dem Landtag.