Nüchtern gegen die Welt - von der neuen Lust auf Verzicht
Kein Alkohol, keine Zigaretten und kein Fleisch. Enthaltsamkeit ist wieder en vogue. Von der neuen Lust auf Nüchternheit, dem freudvollen Verzicht – und was das eigentlich soll.
Von Michael Setzer
Genussfeindlich oder freudvoller Verzicht: wenn das Schnapsglas nicht halb voll oder halb leer ist, sondern prinzipiell leer bleibt.
(Foto: Adobe Stock/Pixel-Shot)
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Altes Bonmot an der Theke: „Nüchtern betrachtet, war’s betrunken viel besser.“ Oder der andere Klassiker: „Nüchtern ist diese Welt nicht zu ertragen.“ Wer Gründe sucht, Alkohol zu trinken, muss meist nicht lange suchen. Wir kaufen Schaumwein, wenn’s etwas zu feiern gibt, treffen uns auf ein Bier und gönnen uns einen Schnaps, wenn’s gut, weniger gut oder wahnsinnig schlecht lief.
Umso seltsamer scheint es, in einer durchalkoholisierten Gesellschaft bewusst auf Alkohol zu verzichten. Doch besonders in der Generation Z, den zwischen 1997 und 2012 Geborenen, wird Alkohol immer egaler. „Sober Curious“ nennt sich die seit einigen Jahren anhaltende Bewegung, die der Nüchternheit mit Neugierde begegnen möchte – lebensbejahend, irgendwo zwischen Fitness, Achtsamkeit, klarem Verstand und ständiger Selbstoptimierung. Die „Mindful Drinking“-Bewegung floriert ebenfalls. Vordergründig nimmt man sich des achtsamen Alkoholgenusses an oder noch besser: der Nüchternheit als freudvollem Lebensstil. Die US-Autorin Holly Whitaker landete 2021 einen Bestseller mit „Quit Like a Woman – Nüchtern und glücklich in einer Welt voll Alkohol“: Sie erzählt von ihrer neuen Nüchternheit aus einer feministischen Perspektive.
Wie bei jedem Trend steht auch hier längst eine Industrie mit passenden Produkten bereit: Säfte, Lebensmittel, alkoholfreie Cocktails, Veranstaltungen oder Bars ohne Alkoholausschank und Co. – Achtsamkeit to go. Und in Berlin lockt seit einem Jahr der „Null Prozent Späti“ die nüchterne Kundschaft mit ausschließlich alkoholfreiem Wein, Sekt, Spirituosen und Bier.
Genussfeindlich oder freudvoller Verzicht: wenn das Schnapsglas nicht halb voll oder halb leer ist, sondern prinzipiell leer bleibt. Foto: Adobe Stock/Pixel-Shot
Plattencover von Ian Mac- Kayes erster Band. Zwei X als Zeichen für Nüchternheit. Foto: Dischord Record
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In den vergangenen Jahren scheint eine Generation herangewachsen zu sein, die – aus den unterschiedlichsten Beweggründen – alles infrage stellt, was den Altvorderen Spaß gemacht oder Genuss bereitet hat. Eine Generation, fast Gegenbewegung, die nicht trinkt, nicht raucht, kein Fleisch isst, Sexismus ablehnt, Achtsamkeit propagiert und auch noch ans Klima denkt. Ein Affront für Traditionalisten und Gewohnheitstiere.
Was heute „woke“ genannt wird, war damals Temperenz
Was heute in konservativen Kreisen spöttisch als „woke“ oder „Woke-Blase“ beschrieben wird, existierte bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Da bildeten sich in Europa diverse Strömungen, die sich der Temperenz – abgeleitet aus dem Lateinischen für Mäßigung – verschrieben hatten und in Abstinenzvereinen versammelten. Einige hatten das seelische Wohl und die Gesundheit der Gesellschaft im Sinn, andere operierten nahe an der moralistischen oder religiös motivierten Sittlichkeitsbewegung.
Ihren popkulturellen Niederschlag findet diese Mäßigung ausgerechnet in der selbstzerstörerischen US-Punkszene der frühen 80er Jahre: Verzicht als gesellschaftliche Rebellion. Bereits Ende der 70er Jahre bäumen sich Ian MacKaye und seine Freunde in Washington D.C. gegen Alkohol auf – erst aus ganz pragmatischen Gründen: Sie wollen zu den Konzerten ihrer Lieblingsbands, sind aber zu jung, um in die Clubs reinzukommen. Die jedoch generieren ihre Umsätze mit dem Alkoholverkauf.
Aus der US-Punkszene kommt das wasserfeste X
Konzerte, bei denen auch Minderjährigen Einlass gewährt wird, rechnen sich nicht, mit Limonade und Wasser ist kaum Kasse zu machen. Die Jugendlichen schlagen etwas vor, das sie zuvor in Los Angeles gesehen hatten: Sie würden sich mit wasserfesten Stiften großflächig ein X auf beide Handrücken malen, so könnte das Barpersonal erkennen, dass man ihnen keinen Alkohol ausschenken darf. Mit Erfolg. Fortan steht Alkohol nicht mehr zwischen ihnen und ihrer Lust an der Kultur.
Als MacKaye 1981, da ist er 19 Jahre alt, mit seiner Band Minor Threat das Lied „Straight Edge“ (grob: klare Kante) veröffentlicht, trifft er endgültig einen Nerv in der von Drogen und Gewalt durchtränkten Punkszene. Gerade mal 49 Sekunden lang handelt das Lied davon, dass alle um ihn herum ständig besoffen sind, er das aber nicht möchte, weil ein klarer Kopf dabei helfe, am Leben teilzunehmen. Ehe er sich´s versieht, wird MacKaye ungewollt Vorreiter einer Bewegung: Straight Edge. Selbst Volljährige malen sich nun das X auf die Hand und feiern sich als die neue nüchterne Gegenkultur.
Kein, kein, kein, kein...
Was nie als Bewegung angedacht war, scheitert schnell an den stark variierenden Vorstellungen aller Beteiligten: keine Drogen, kein Alkohol, kein Tabak, kein Koffein, kein Fleisch, keine Milchprodukte, kein Zucker, kein Sex vor der Ehe . . . kein, kein, kein, kein. Alles oder nichts. Achtsamkeit gegen alles, jeden, die Gesellschaft, Konzerne und das System – inklusive einiger radikaler Aktivisten. Eine gute Idee zerlegt sich selbst, unkontrolliert, wie das nicht mal Betrunkene tun.
Hier der Song „Straight Edge“ auf Youtube
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Als Straight Edge geboren wird, ist Jan Schwarzkamp zwei Jahre alt. Mittlerweile lebt der 42-jährige Berliner bereits die Hälfte seines Lebens ohne Fleisch und verzichtet seit 25 Jahren auf Alkohol. Irgendwie Straight Edge, weil sich der vernünftige Teil der Grundidee weitergetragen hat. „Da ich nie eine Trink-Routine hatte und der Alkohol keine nennenswerte Rolle in meiner Adoleszenz gespielt hat, habe ich es nie als Verzicht empfunden“, sagt Schwarzkamp. Nur bei extravaganten Fleischgerichten melden sich ab und an noch Geschmackserinnerungen. „Ich habe gerne Fleisch gegessen – und es hat mir immer gut geschmeckt. Von daher hat es sich anfänglich immer wieder nach Verzicht angefühlt.“
Auf Fleisch hat er wegen enger Freunde verzichtet, die Vegetarier geworden sind, und weil ihm ein Aufenthalt in den USA die Lust an Fleisch vermieste. „Erst nach und nach hat sich bei mir ein Verständnis geformt, dass es ökologisch, ethisch und auch gesundheitlich betrachtet, eine weise Entscheidung war, darauf zu verzichten.“ Auf Alkohol sowieso: „Ich kann sicherlich festhalten, dass mein eigener Körper es mir dankt, dass er sich nicht mit den Nach- und Auswirkungen von Alkohol rumschlagen muss.“
Zwischen persönlicher Entscheidung und dem Politischen, dem großen Ganzen, will Schwarzkamp nicht unterscheiden. „Wenn ich mich entscheide, nicht bei McDonald’s zu essen oder keinen Kaffee bei Starbucks zu trinken, dann ist meine persönliche Entscheidung auch eine von politischer Dimension“, erklärt er. „Natürlich nur im Kleinen. Aber: Die Masse und Frequenz dieser Entscheidungen zum Verzicht können eben eine Auswirkung haben.“
Dies treibt auch die Jugendlichen heute an. Vom Kleinen zum Großen und sich den Ärgernissen entgegenzustellen – ohne dabei zu torkeln. Es dauert leider. MacKaye zum Beispiel berichtet, dass ihn heute noch Menschen anrufen und sagen: „Ich bin besoffen, was willst du dagegen tun?“
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 10.06.2022 um 08:00 Uhr publiziert.