Nahostkonflikt: Die Rufe nach einer Waffenruhe werden lauter

Nach nur wenigen Stunden Ruhe flogen aus Gaza-Stadt wieder Raketen in Richtung Israel. Foto: dpa

Der Gaza-Konflikt geht in seine zweite Woche. Seine Intensität ist enorm. Bemühungen um Deeskalation nehmen Fahrt auf. Doch was kommt nach einer möglichen Waffenruhe?

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TEL AVIV/GAZA. Die Zahl der Toten steigt fast halbstündlich. Über 40 sind es nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen, die Helfer am Wochenende aus mehreren zerstörten Wohnhäusern bergen. Unter ihnen sind demnach auch Kinder. Mehr Opfer an einem Ort hat es im jüngsten Konflikt zwischen Israel und der Hamas demnach bislang nirgendwo in dem Küstengebiet gegeben.

Israel zweifelt die Angaben des Ministeriums grundsätzlich an. Der Gazastreifen und damit auch die Verwaltung wird von der islamistischen Hamas beherrscht, und die Palästinensergruppe - von der EU als Terrororganisation eingestuft - hat sich die Zerstörung Israels zum Ziel gesetzt. Diese Wohnhäuser sind jedoch nicht absichtlich beschossen worden, wie Israels Militär einräumt. Sie seien wohl in Folge eines Angriffs auf nahe Hamas-Tunnel eingestürzt.

Israel will vorerst weiter angreifen

Die Bemühungen um Deeskalation im Gaza-Konflikt nehmen auch wegen dieses Vorfalls zunehmend an Fahrt auf. Israel hat angekündigt, seine Angriffe vorerst fortzusetzen. Dies dürfte mit der nie dagewesenen Intensität des Beschusses durch militante Palästinenser zusammenhängen.

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Die ersten Raketen in dem Konflikt fliegen am 10. Mai aus dem Gazastreifen unter anderem in Richtung Jerusalem, die Hamas hat sich zur Verteidigerin der Stadt erklärt. In den Tagen darauf folgen nach Armee-Angaben mehr als 3300 weitere, wahllos abgefeuert auch auf Wohngebiete. Zwölf Menschen sterben in Israel seit Beginn der Eskalation. Zum Vergleich: Im 51-tägigen Gaza-Krieg 2014 waren der Armee zufolge insgesamt knapp 4500 Raketen abgefeuert worden.

Internationale Hilfsgelder für Hamas-Infrastruktur?

Dass Hamas und Islamischer Dschihad trotz Blockade des Gazastreifens Raketen-Kapazitäten ausgeweitet und ihr Tunnelnetz gewaltig ausgebaut haben, hat Israel aufgeschreckt. Es wirft der Hamas-Führung vor, dies auf Kosten der Bevölkerung sowie unter anderem mit internationalen Hilfsgeldern in Milliardenhöhe getan zu haben.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betont, bei dem aktuellen Einsatz gehe es darum, dass "Ruhe und Sicherheit für alle israelischen Bürger wiederhergestellt werden". Dies schließt aus Israels Sicht Zerstörung von Hamas-Infrastruktur ein. Armeesprecher Jonathan Conricus sagt, deren Raketenentwicklung und -produktion seien um Jahre zurückgeworfen worden.

Mehr als 200 tote Menschen im Gazastreifen

Israel hat nach Armeedaten bislang rund 800 Ziele im Gazastreifen beschossen. Dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge sterben dort seit Beginn der Eskalation des Konflikts vor gut einer Woche mehr als 210 Menschen. Im Jahr 2020 hatte Israel nach Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen insgesamt 179 Ziele in dem Gebiet angegriffen. International wird Israels Recht auf Selbstverteidigung nach dem Hamas-Beschuss betont. Je mehr Opfer es unter den Zivilisten im Gazastreifen gibt, desto mehr wird Israel jedoch in die Kritik geraten. In dem dicht besiedelten Gebiet sind die von der israelischen Armee angestrebten "chirurgischen Angriffe" oft nur schwer möglich, zudem wirft Israel Hamas-Kämpfern vor, sich unter der Zivilbevölkerung zu verstecken.

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Zu Beginn der zweiten Konfliktwoche werden die Rufe nach einem Ende der Gewalt lauter, insbesondere in den USA. Ein ungenannter Vertreter der israelischen Regierung gibt am Dienstag in der Zeitung "Haaretz" an, das "Legitimitätsfenster" für weitere Angriffe verkleinere sich, der internationale Druck wachse. Daneben wächst aber auch der Druck von innen: Im Schlepptau des Gaza-Konflikts droht eine Kluft zwischen Arabern und Juden in Israel immer weiter aufzubrechen, die die Gesellschaft tief spalten könnte. Eine Waffenruhe könnte also näher rücken. Wie es jedoch danach weitergehen soll, ist unklar.

Israelis "mähen Rasen" in feindlichen Reihen

"Das Problem ist, dass es unterhalb einer intensiven Bodenoffensive zur Rückeroberung des Gazastreifens - was enorme Verluste auf beiden Seiten mit sich bringen würde und daher unwahrscheinlich ist - keine einfache Lösung für die Katastrophe namens Hamas gibt", schrieb der Vizepräsident des rechtskonservativen Jerusalem-Instituts für Strategie und Sicherheit, David Weinberg, unlängst in einem Beitrag für die "Jerusalem Post". "Israel kann eigentlich nur häufig "den Rasen mähen", um die Möglichkeiten des Feindes einzuschränken und die Hamas für längere Zeit abzuschrecken." Häufig "Rasen mähen" bedeutet im israelischen Militärjargon etwa: Der Hamas regelmäßig Schaden zufügen, um für eine gewisse Zeit Ruhe zu haben. Die Metapher und deren zynische Verwendung verdeutlicht, dass eine politische Strategie für eine dauerhafte Friedensregelung noch immer fehlt.

Israel hatte den Gazastreifen 2005 geräumt. In dieses Vakuum war die Hamas vorgestoßen. Die zweitgrößte Palästinensergruppe nach der Fatah von Präsident Mahmud Abbas übernahm 2007 gewaltsam die Kontrolle über das Küstengebiet. Seither und vor der jüngsten Auseinandersetzung haben sich Israel und die Hamas drei Kriege geliefert. Die 1987 gegründete und unter anderem vom Iran unterstützte Gruppe bestreitet das Existenzrecht Israels und fordert die gewaltsame Errichtung eines islamischen Palästinas vom Mittelmeer bis zum Jordan.

Viele glauben nicht mehr an eine Lösung des Konflikts

Das Paradoxe ist: Manche Beobachter machten bei Israels Ministerpräsidenten Netanjahu in den vergangenen Jahren dennoch Interesse aus, dass die Hamas im Gazastreifen an der Macht bleibt. Die Rivalität zwischen Fatah und Hamas spiele seiner Regierung etwa in der Debatte um eine Zwei-Staaten-Lösung in die Karten, da es dadurch an einer gemeinsamen Linie der Palästinenser fehle. An die Möglichkeit einer Lösung des Konflikts glauben in Israel schon viele nicht mehr. Vorrang hatte zuletzt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu mehreren arabischen Ländern. Hinzu kommt: Das Land steckt in einer innenpolitischen Dauerkrise.

Einer, der sich in der Vergangenheit intensiv um eine umfassende Lösung in dem Konflikt bemüht hatte, bezeichnet den Versuch eines solchen großen Wurfs inzwischen als Fehler. Der frühere US-Diplomat Martin Indyk schreibt bei Twitter, er sei nun ein Verfechter kleiner Schritte. Wie diese aussehen könnten, führt er allerdings nicht aus.

Von dpa