Gastkommentar von Michel Friedman: Alle wissen es

Michel Friedman. Foto: Nicci Kuhn

Wer darf, wer darf nicht? Angesichts der Coronakrise stehen Mediziner vor existenziellen Entscheidungen.

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. Alle wissen es, einige sprechen es immer deutlicher und lauter aus: In einigen Tagen schon könnte die Bettenkapazität auf Intensivstationen zur Behandlung von Corona-Erkrankten nicht mehr ausreichen. Was dann in Deutschland auf uns zukommt, ist in Spanien und Italien schon Realität – mindestens ein Patient mehr, als Betten zur Verfügung stehen. Ärzte müssen entscheiden, wer höchstwahrscheinlich unbehandelt sterben wird, damit ein anderer Mensch mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben kann. Das furchtbare Wort dafür ist: Selektion.

Kann es ein schlimmeres Dilemma für Ärzte geben, die mit dem Hippokratischen Eid geschworen haben, jeden Menschen ungeachtet seines Alters, seines Einkommens, seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Religion ihre ärztliche Kunst anzubieten? Das Dilemma, in dem sich das medizinische Personal befindet, ist unlösbar. Sieben medizinische Fachgesellschaften in Deutschland versuchen, mit einem Kriterienkatalog die Entscheidungen über die Zuteilungen von Ressourcen, die der Notfall- und Intensivmedizin zur Verfügung stehen, zu kategorisieren und zu objektivieren.

Unser Grundgesetz stellt die Würde des Menschen in seiner Unantastbarkeit als das Grundrecht aller Grundrechte in den Vordergrund. Dies gilt erst recht für Fragen um Leben und Tod. Unsere zu Recht heftigen Diskussionen über Sterbehilfe und Organspende haben das repräsentiert und symbolisiert. Was macht es mit uns und der Gesellschaft, wenn Ärzte entscheiden müssen, wer beatmet wird und damit überlebt? Letztendlich geht es um das archaische Prinzip, im Zweifelsfall für diejenigen, die am überlebensfähigsten sind.

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Der archaische Naturgedanke vom Survival of the Fittest wird wieder zu einer unübersehbaren brutalen Realität. Ethisch moralische Grundsatzfragen sind nicht mehr nur Thema von Seminaren, sondern werden zum nackten Realitätstest. Die Stunde der Wahrheit ist eingeläutet. Corona zwingt uns, sich mit den existenziellsten gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen zu beschäftigen. Es geht wortwörtlich um Leben und Tod. Es geht um die Überlebensfrage von Millionen Menschen und es wird furchtbar konkret. Es geht um den jeweilig einen Patienten, der zu viel ist. Für den kein Bett mehr frei ist. Es geht um die Angehörigen und Freunde dieses Menschen und welche Wirkungen aus dieser Realität für die Zeit danach erwachsen werden, welche Konsequenzen daraus entstehen.

Für das medizinische Personal sind die Richtlinien eine Hilfe, eine Krücke. Sie werden die unmittelbar Entscheidenden sein. Die Gesellschaft wird diese Entscheidungen mittelbar mittragen müssen. Wirklich? Wie lange? Mit dem Argument, man müsse Opfer bringen? Ein gefährlich dynamisches Argument. Und natürlich gibt es diese eine Gesellschaft nicht, die homogen solche Realitäten gleich bewerten wird. Hände, die sich in Unschuld waschen, kann es bei so einer Tragödie nicht geben.

Spätestens jetzt merken wir, dass wir nicht hätten sparen sollen an der medizinischen Versorgung. Dass wir falsche Prioritäten gesetzt haben. Für humanistische Gesellschaften ist eine solche Realität ein Desaster. Unser Versprechen ist: Wir passen aufeinander auf. Wir sind solidarisch und das immer mit den Schwächsten. Mit den Kranken. Mit den Hilflosen. Dieses Versprechen wird in einigen Ländern Europas in diesen Tagen nicht mehr erfüllt und bald in Deutschland vielleicht auch nicht mehr. In Fragen von Leben und Tod wird diese Erfahrung die Menschen und die Gesellschaft erschüttern.

Wenn es die eigenen Eltern oder Großeltern sein werden, oder der/die unheilbar krebskranke Partner*in, wird dieses abstrakte Dilemma zu einer brutalen Realität. Wie sollen Angehörige diese Entscheidungen ertragen und damit umgehen? Kann eine Gesellschaft verlangen, dass man diesen höchsten Preis der Solidarität bezahlt, nämlich das eigene Leben zu opfern, um das andere Leben zu retten? Jedes Leben ist einzigartig. Jedes Leben ist so wertvoll wie das andere Leben. Keine Macht, kein Mensch sollte die Macht darüber haben, über das Leben eines anderen Menschen oder sein Ende entscheiden zu dürfen. In diesen Tagen und Wochen wird diese Aussage nur noch bedingt gelten. Dies wird uns verändern.

Von Michel Friedman