Der Verzicht auf ein Gefühl von Freiheit

So wie das Hochheimer Weinfest fallen in diesem Jahr viele Veranstaltungen aus. Archivfoto: Vollformat/Volker Dziemballa

Die Fahrgeschäfte fahren nicht mehr, Konzerte gibt es nur noch digital. Doch was macht das mit den Menschen, wenn fast alle Volksfeste abgesagt werden?

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REGION. Kein Open Ohr Festival an Pfingsten in Mainz. Keine Rheingauer Weinwoche im August in Wiesbaden. Kein Ochsenfest in Wetzlar, in Darmstadt weder Heiner- noch Schlossgrabenfest. Kein Rock am Ring! Kein Frankfurter Museumsuferfest!! Keine Wiesn!!! Die Schneise, die das Coronavirus durch den Veranstaltungskalender fräst, ist brutal.

So wie das Hochheimer Weinfest fallen in diesem Jahr viele Veranstaltungen aus. Archivfoto: Vollformat/Volker Dziemballa
Menschen drängen sich dicht an dicht auf der Frankfurter Dippemess. Sie wurde wegen des Coronavirus von Anfang April auf Mitte September verschoben. Archivfoto: dpa
2019 wurde auf der Münchner Theresienwiese noch gefeiert  – für dieses Jahr wurde das Oktoberfest bereits abgesagt. Archivfoto: dpa

Das am Montag abgesagte Münchner Oktoberfest war zuletzt im vergangenen Jahrhundert dem Zweiten Weltkrieg und seinen Auswirkungen zum Opfer gefallen. „Seit diesem Zeitpunkt musste das Oktoberfest nie wieder abgesagt werden — wir hoffen, dass das so bleibt“, hieß es bis zuletzt auf der Wiesn-Website. Seit Montag mit dem Hinweis: „Das Oktoberfest 2020 findet aufgrund der Corona-Pandemie nicht statt.“ Immerhin: Für das Wormser Backfischfest besteht noch (vage) Hoffnung.

Das Fest als Abkehr von Zwängen der Arbeitswelt

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Was macht das eigentlich mit uns, wenn wir uns nicht mehr zwanglos treffen, nicht mehr gemeinsam feiern, den Alltag vergessen und uns ein Gläschen genehmigen können? (Womöglich auch eins zu viel.) Für Veranstalter, Künstler, Agenturen, für Messebau- und Securityfirmen, Caterer und andere, die mit der Feierei ihren Lebensunterhalt verdienen, ist das unbestritten eine veritable Katastrophe. Doch was ist eigentlich mit uns, den begeisterten Festival-, Volksfest- und Partybesuchern?

Beispiel Musikfestival: Es gibt Leute, die behaupten, wer nie ein solches Festival besucht hat, in einem zugigen Igluzelt „übernachtet“, sich ausschließlich von Ravioli und Dosenbier ernährt und drei Tage dieselben Klamotten getragen hat – der hat schlicht nicht gelebt. Zum Glück haben wir das in unserer Jugend (bei Männern dauert die bekanntlich ein paar Jahre länger) ausgiebig genutzt – nicht selten mit mehrtägiger Resozialisierungsphase. Wann man diesen aus den Zutaten Schmutz, Schweiß und Glückseligkeit gebrauten Eskapismus nämlich wieder ungeniert zelebrieren dürfen wird, steht in den Sternen.

Ähnlich verhält es sich mit Veranstaltungen wie dem überregional renommierten Rheingau Musik Festival (RMF), natürlich abzüglich Schmutz, Igluzelt und Dosenbier. Wobei: Alkohol wird freilich auch zu erbaulichen Klassik-, Jazz- und Swing-Konzerten ausgeschenkt.

Schließlich wusste schon Friedrich Nietzsche: „In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch.“ Ob der alte Griesgram je ein Fest besucht hat, ist nicht überliefert. Jedenfalls schrieb sein philosophischer Nachfahre Josef Isensee in seiner Abhandlung „Die Philosophie des Festes“ von der „Notwendigkeit zu feiern“. Diese begründet der studierte Staatsrechtler wie folgt: „Im Wort ,feiern‘ steckt auch die Bedeutung des Nicht-Arbeitens.“ Wer feiere, lasse die Arbeitswelt, ihre Zwänge und Anstrengungen hinter sich. „Je drückender und armseliger der Alltag, desto schöner die Freiheitserfahrung.“ Was uns wieder zum RMF führt, dessen Motto in diesem Sommer „Freiheit“ lautet. Oder lauten soll. Ob die Veranstaltung in geplanter Form nämlich überhaupt stattfinden kann, entscheide sich erst nächste Woche, informiert die Festival-Website.

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Ist das alles lediglich Jammern auf hohem Niveau? Sollten wir uns nicht lieber Gedanken um die machen, die derzeit um ihre Existenz, ihren Arbeitsplatz, die Betreuung ihrer Kinder bangen? Sicher, aber auch um mit all diesen Sorgen nicht allein zu sein, trifft sich der Mensch doch mit anderen.

„Ein Einzelner kann nicht allein und für sich feiern“, schreibt der lebenskluge Philosoph Isensee. „Das Fest ist ein Akt der Gemeinschaft. In ihm erfährt sich eine Menschengruppe als geistige Einheit.“ Dazu gehört die körperliche Präsenz. Das Umarmen, das Anfassen, das gegenseitige Küssen – in südlicheren Kulturkreisen sicher mehr als bei uns. Wer den ersten Mädelsabend via Videokonferenz-App hinter sich hat, stellt nach zwei Stunden ernüchtert fest: Es war nicht mal halb so schön wie „in echt“. Trotz Riesling (siehe oben) und Hintergrundmusik. Für geduldete Kurzzeit-Zaungäste männlichen Geschlechts ist damit übrigens das letzte Mysterium der langjährigen Partnerschaft entzaubert. Aber, hey: Wir waren dabei! Genauso wie bei der ersten – und womöglich einzigen – Livestream-Trauung unseres Lebens. Wobei: Beim Jawort war der Ton nicht so gut...

Gerade wer seit Wochen im Home-Office feststeckt und das Haus nur zum täglichen „Hofgang“ (Spazieren) verlässt, dem werden die Tage einerlei, in dem wächst der unbedingte Drang nach Abwechslung, Ablenkung, Zerstreuung, Ausbruch, Freiheit! Zumal die digital unterstützte Heimarbeit trotz aller neu gewonnenen Privilegien bei manchem Angestellten den Eindruck weckt, permanent im Dienst zu sein und gefühlt gar keinen Feierabend mehr genießen zu können.

Wie hatte Goethe in seinem Gedicht „Der Schatzgräber“ so trefflich gereimt? „Tages Arbeit, Abends Gäste // Saure Wochen, frohe Feste! // Sei dein künftig Zauberwort.“

Was wird aus Weihnachten und der Fastnacht?

Doch bis es soweit ist, muss der Infektionsschutz weiter an erster Stelle stehen. Auch wenn es unvorstellbar ist, dass die Rückkehr der Feste dauern soll, bis ein Impfstoff gefunden ist. Was wird dann aus Weihnachten? Und der Fastnacht? Eine Kollegin, die fern ihrer Familie im „Exil“ lebt und sich ausführlich in der närrischen Zeit engagiert, mag darüber kaum nachdenken. „An Weihnachten allein daheim, ohne meine Lieben? Unvorstellbar! Und dann womöglich nicht mal Rosenmontag, Kappensitzung, Zug?!“

Das Rennen um die gewagtesten Vorschläge zur „Rückkehr in die Normalität“ jedenfalls beschert momentan nicht nur Politikern, sondern auch manchem Partyprofi Häme: Die Berliner Popband Culcha Candela, die im Sommer einige Festivals spielen sollte, schimpfte unlängst auf Twitter über Auftrittsverbote und behauptete über die Ansteckung durch Covid-19: „Über die Straße gehen ist gefährlicher.“ Auf den „Shitstorm“ mussten die Musiker nicht lange warten. Bei allem Verständnis: zu recht.