Es gibt kaum noch Einschränkungen, vieles ist fast wie früher – doch die Sommerwelle und die hohen Infektionszahlen führen zur Frage: Was passiert im Herbst?
WIESBADEN/MAINZ. Es ist Sommer – und der fühlt sich fast so an wie vor Corona. Denn es gibt praktisch kaum noch Beschränkungen, abgesehen von der Maskenpflicht in Bussen und Bahnen sowie den weiter strengen Auflagen in Kliniken, Heimen, Arztpraxen. Der Unterschied zu den beiden vorangegangenen Coronasommern ist aber auch: Die Infektionszahlen sind diesmal viel, viel höher. Eine „Sommerwelle“ rollt durchs Land und Europa. Nachfolgend ein Blick auf wichtige Indikatoren – und wie es weitergehen könnte.
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Die Inzidenz – offiziell
Die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Freitag bei rund 720 und damit knapp 100 Mal höher als im Juli vor einem Jahr. Im Vergleich zur Vorwoche allerdings hat sie sich kaum verändert – es zeichne sich ein „Plateau“ ab, schreibt das Robert Koch-Institut (RKI). Zuvor waren die Zahlen seit Ende Mai (Inzidenz: ca. 225) stark gestiegen, schon seit einigen Wochen lässt die Dynamik aber nach. Die Welle rollt von Nord nach Süd, am Freitag hat Hessen erstmals wieder den Inzidenzwert von 1000 überschritten (Rheinland-Pfalz: 776).
Auffällig: Vor allem in den Ländern, in denen schon Ferien sind, sind die Zahlen gesunken. Daraus kann man einerseits schließen, dass in den Schulen die Ansteckungsgefahr generell hoch ist. Allerdings: Wie die zurückliegenden Ferien gezeigt haben, sind in der Regel unmittelbar nach Schulbeginn die Zahlen wieder gestiegen – was bedeutet, dass die Ansteckungen der Schüler ganz überwiegend noch im Urlaub stattgefunden haben, also im privaten Bereich.
Unstrittig dürfte aber sein, dass die regelmäßigen Schultests – die es so in keiner anderen Altersgruppe gab – lange für ein „Aufhellen“ des Dunkelfelds rund um die Coronainfektionen gesorgt haben. Mit dem Nebeneffekt, dass dadurch Kinder und Jugendliche in den Infektionsstatistiken überrepräsentiert waren. Dieses „Aufhellen“ fällt vorerst aus – bislang sind keine verpflichtenden Schultests nach den Ferien geplant. Angesichts des Einflusses von Reiserückkehrern in früheren Wellen dürfte es darüber noch Diskussionen geben.
Die Inzidenz – inoffiziell
Die große Frage ist, wie aussagekräftig die offiziellen Zahlen noch sind. Inzwischen lassen sich die Menschen sehr viel seltener testen, auch wegen der weggefallenen 2G- und 3G-Regeln. Dafür ist aktuell der Anteil der positiven PCR-Tests vergleichsweise sehr hoch – was ein Indiz für eine hohe Dunkelziffer ist. In den Statistiken gibt es zudem Unschärfen, weil in den meisten Bundesländern vor allem am Wochenende gar keine Zahlen mehr geliefert werden. Die Nachmeldungen verzerren dann die Inzidenzwerte.
Und dann gibt es noch die Beobachtungen im privaten und beruflichen Umfeld, die derzeit sehr viele Menschen machen: Zahlreiche Infektionen bei Bekannten und Kollegen, die – auch bei „milden“ Verläufen – über Tage oder gar Wochen krank sind und ausfallen. Betroffen sind dabei auch die Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur, also etwa in Krankenhäusern und bei Verkehrsbetrieben.
Intensivbetten
Dem Anstieg der Inzidenz ist wie in früheren Phasen mit Verzögerung auch ein Anstieg bei der Zahl der Corona-Intensivpatienten gefolgt. Aktuell werden laut Intensivregister bundesweit 1194 Patienten (Stand Freitag) mit einer Coronavirusinfektion auf Intensivstationen behandelt, bei rund 18 000 Intensivpatienten insgesamt. Die Zahl der Coronapatienten ist knapp dreimal so hoch wie vor einem Jahr – bei einem heute allerdings rund 100 mal so hohen Inzidenzwert, ohne Dunkelziffer. Von den Corona-Intensivpatienten müssen heute rund 30 Prozent beatmet werden, vor einem Jahr lag der Wert noch bei rund 65 Prozent. Mögliche Erklärungen: Zum einen die geringere Krankheitslast durch Omikron, zum anderen eine heute möglicherweise höhere Zahl von „Zufallsfunden“ – Patienten, bei denen Covid-19 nur eine Nebendiagnose ist. Die Zahl der Corona-Toten ist zuletzt auch leicht gestiegen, sie liegt klar über der vom Sommer 2021 – aber noch deutlicher unter der früherer Wellen.
Intensivbetten und Personal
Viele Kliniken berichten von wachsenden Problemen infolge von Personalausfällen – eben auch durch Corona. Es fehlen kranke oder in Quarantäne befindliche Mitarbeiter, es fehlen Mitarbeiter, die infizierte Kinder betreuen müssen. Hinzu kommen der generelle Pflegekräftemangel, die Urlaubszeit und Sondereffekte wie der wochenlange Streik in den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen, wo das Personal gegen die schlechten Arbeitsbedingungen protestiert. So kommt es, dass derzeit die meisten Intensivstationen dem Intensivregister melden, dass der Betrieb nur „eingeschränkt“ möglich sei – im Sommer 2021 und 2020 arbeitete die klare Mehrheit im „grünen“ Bereich. Auch die Zahl der überhaupt betreibbaren Betten – also Betten, für die neben den Geräten auch Personal bereit steht – ist auf einem Tiefstand. Knapp 21 000 sind es demnach aktuell, zwischen 1500 und 2000 weniger als im Juli 2021. All dies bedeutet schon jetzt in einigen Kliniken, dass geplante Behandlungen und Operationen verschoben werden müssen.
Impfungen
Der Juni 2022 bedeutet einen Tiefststand – laut RKI gab es etwas weniger als eine Million Impfungen in diesem Monat, so wenige waren es seit Beginn der Kampagne noch nie. Im Rekordmonat Dezember 2021 waren es hingegen knapp 27 Millionen, im Juni vor einem Jahr 25,3 Millionen.
Hinzu kommt, dass die Zahl der Erstimpfungen derzeit auf verschwindend geringe 1000 im Tagesschnitt gesunken ist – bundesweit. Das entspricht einem Anteil von nur rund drei Prozent an den täglichen Impfungen. Wenn geimpft wird, handelt es sich vor allem um Viertimpfungen, das sind derzeit rund 72 Prozent der täglichen Impfungen. Insgesamt haben in Deutschland 76,2 Prozent der Menschen mindestens zwei Impfungen, bei den besonders gefährdeten Ab-60-Jährigen sind es sogar 91,2 Prozent. 61,8 Prozent der Menschen sind geboostert, 8,9 Prozent haben schon eine zweite Auffrischungsimpfung (bei den Ab-60-Jährigen 21,3 Prozent). Rund 9,2 Millionen Erwachsene, darunter zwei Millionen ab 60, haben noch gar keine Impfung.
Ausblick I – neue Wellen?
Auch wenn die aktuelle Welle etwas abebben und auch die Krankheitsbelastung wieder sinken dürfte – der weitere Fortgang im Sommer ist sehr ungewiss. Es ist die erste große Urlaubssaison in Europa seit drei Jahren, mit einem weiter grassierenden Virus, aber praktisch ohne Einschränkungen – die Welle wird mal mehr, mal weniger stark über den Kontinent rollen. Im Herbst, wenn die Ansteckungen absehbar zunehmen, hängt es dann vor allem davon ab, welche Coronavariante dominiert. Es gibt neben der pessimistischen Annahme auch die optimistische Perspektive, nämlich eine noch weniger krankmachende Variante als Omikron.
Ausblick II – politisch
Abgesehen davon beeinflusst auch der politische Umgang mit Corona den weiteren Verlauf. Die Regierungen in vielen anderen europäischen Ländern (etwa Spanien, Großbritannien, Schweiz, Dänemark, Schweden) haben sich auch auf der Basis von Studien zur Bevölkerungsimmunität – die es hierzulande noch nicht gibt – inzwischen für eine andere Coronastrategie entschieden. Auch unabhängig vom Impfstatus in der Bevölkerung. Nämlich: Weg vom starken Fokus auf Corona und der Angst vor der Entwicklung, hin zu einem eher rationalen Umgang und Leben damit, ohne die Gefährlichkeit zu unterschätzen. Eine politische Mehrheit für eine andere Strategie ist hierzulande noch nicht erkennbar, auch nicht in der Bevölkerung.
Im Gegenteil: Es drohen noch heftige Auseinandersetzungen über das neue Infektionsschutzgesetz, das Ende September ausläuft. Und damit auch darum, welche das Virus eindämmenden Corona-Maßnahmen noch angebracht sind und welche nicht mehr. In der Ampel verläuft der Streit zwischen großen Teilen der Grünen und der SPD auf der einen Seite – mit dem Bundesgesundheitsminister an der Spitze –, die auf mehr Möglichkeiten für harte Maßnahmen setzen. Und der FDP auf der anderen Seite, die auf mehr Verhältnismäßigkeit pocht. Der Streit wird in eine Zeit fallen, in der die Infektionszahlen wohl ohnehin steigen, hinzu kommt womöglich die „normale“ Grippewelle. Abermals mit spürbaren Krankheitsausfällen, etwa in den Kliniken und Arztpraxen. Es steht also erneut ein sehr unruhiger Spätsommer und Corona-Herbst bevor, in mehrerlei Hinsicht.