Welche Krebsart Biontech ins Visier nimmt und warum eine innovative Therapieform große Chancen hat, Patienten mit denkbar schlechter Prognose eine neue Perspektive zu geben.
MAINZ. Biontech-Chef Ugur Sahin hält bekanntermaßen den Ball flach. „Es gibt keine Garantie, dass wir die Zulassung bekommen, und der Krebsimpfstoff auch funktioniert“, sagte er beim Richtfest für eine neue Produktionsanlage für eben solche Krebsimpfstoffe im Dezember 2021 in Mainz. Nur: Die Produktionsanlage wird bereits hochgezogen, obwohl noch keine Krebstherapie von Biontech eine Zulassung erhalten hat. Sahin und die übrigen Macher von Biontech müssen sich also schon ziemlich sicher sein, dass sie tatsächlich in naher Zukunft Tumor-Impfstoffe auf den Markt bringen.
Doch mittlerweile halten offenbar auch Zulassungsbehörden große Stücke auf in Mainz entwickelte individualisierte Krebstherapien. Sie würden das zwar offiziell nicht sagen, aber mit ihren Entscheidungen zeigen sie, dass sie dem Biotechnologie-Unternehmen zutrauen, ihre Projekte zum Erfolg zu führen, und eine Krebstherapie auf den Markt zu bringen, die Patienten mit denkbar schlechten Prognosen neue Chancen eröffnet.
Welchen besonderen Status hat Biontech jetzt?
So hat jetzt die europäische Arzneimittelagentur EMA einer Biontech-Therapie gegen fortgeschrittenen und bislang ohne Erfolg behandelten Hodenkrebs den sogenannten Prime-Status für Medikamente von hoher Priorität zugesprochen. Es ist das erste Mal, dass die EMA den Mainzern diesen Status einräumt. Das Prime-Programm führte die EMA nach eigenen Angaben vor sechs Jahren ein, um die weitere Entwicklung von Medikamenten zu beschleunigen, „die möglicherweise einen großen therapeutischen Vorteil gegenüber bestehenden Behandlungen bieten oder Patienten ohne Behandlungsoptionen zugutekommen“. Damit Patienten „so früh wie möglich von Therapien profitieren, die ihre Lebensqualität erheblich verbessern können“.
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Warum kann jetzt alles schnell gehen?
Dabei unterstützt die Behörde das Unternehmen nach Kräften, insbesondere mit engem Dialog und wissenschaftlicher Beratung. Um „das Design klinischer Studien zu verbessern, sodass die eingereichten Daten für die Bewertung eines Zulassungsantrages geeignet sind“. Und schließlich zu gewährleisten, dass das Präparat „zum Zeitpunkt der Beantragung einer Marktzulassung für eine beschleunigte Bewertung infrage kommt“. Die Hürden für den Prime-Status sind hoch. Seit 2016 sind europaweit erst etwas mehr als 60 solcher Projekte gestartet worden. Um für Prime zugelassen zu werden, muss ein Medikament laut EMA „auf der Grundlage früher klinischer Daten zeigen, dass es Patienten mit unerfülltem medizinischem Bedarf zugutekommen kann“. Das ist noch sehr zurückhaltend ausgedrückt. Wenn die EMA einen Prime-Status zuspreche, sehe sie ein „überdurchschnittliches Potenzial“ beziehungsweise sehr gute Chancen, dass das Projekt auch zum Erfolg geführt werden könne, und das vergleichsweise schnell, heißt es in der Branche.
Welche Krebsart hat Biontech hier im Visier?
Den Prime-Status hat Biontech nach eigenen Angaben nach „positiven Zwischenergebnissen“ von Tests am Menschen der frühen Phasen 1 und 2 mit ihrem Produktkandidaten BNT211 zugesprochen bekommen. Die Zwischenergebnisse zeigten „ein ermutigendes Sicherheitsprofil und erste Anzeichen für Anti-Tumor-Aktivität bei Hodenkrebspatienten“. Bei BNT211 handelt es sich laut Biontech um eine neuartige Therapie, die zwei innovative Wirkansätze kombiniert: eine CAR-T-Zelltherapie, die sich gegen das sogenannte onkofetale Antigen Claudin-6 richtet, und einen CAR-T-Zell-verstärkenden mRNA-Impfstoff von Biontech mit Namen Carvac (siehe Info-Box). BNT211 wird in den Studien unter anderem Hodenkrebspatienten verabreicht, die bereits stark, aber ohne Erfolg vorbehandelt wurden.
Welche Ergebnisse zeigen Studien?
„Die Tatsache, dass wir in dieser Patientenpopulation bereits bei der niedrigsten CAR-T-Zellen-Dosis erste Anti-Tumor-Effekte sehen, ist wirklich sehr bemerkenswert und weist auf das Potenzial unseres Ansatzes hin”, bewertete Medizin-Vorstand Özlem Türeci jüngst die Ergebnisse. Die Kombination der CAR-T-Zell-Therapie mit dem mRNA-Impfstoff „könnte insbesondere Patienten mit schwer behandelbaren soliden Tumoren, wie etwa fortgeschrittenem Hodenkrebs, zugutekommen, die ansonsten eine schlechte Prognose haben“. Insgesamt könne der Ansatz, so Türeci dann am Freitag, es Biontech ermöglichen, „hocheffektive Präzisions-Immuntherapien zu entwickeln“.
Bei welcher Krebsart geht es noch schnell voran?
Die EMA ist nicht die erste Zulassungsbehörde, die einer Krebstherapie von Biontech einen besonderen Status einräumt. So hat die FDA dem Hautkrebs-Impfstoffkandidat BNT111, der nach Firmenangaben an Patienten mit „inoperablen therapieresistenten Melanomen im fortgeschrittenen Stadium“ getestet wird, den Fast-Track-Status zugesprochen. Fast Track heißt so viel wie Überholspur und beschreibt ein beschleunigtes Zulassungsverfahren. Laut Biontech beruht die Fast-Track-Entscheidung der FDA „auf verfügbaren präklinischen und klinischen Daten, die das Potenzial von BNT111 belegen, die derzeitigen Einschränkungen bei der Behandlung“ des schwarzen Hautkrebses im genannten Stadium „zu überwinden“. Biontech entwickelt verschiedene Typen von Krebs-Immuntherapien, „am weitesten sind wir mit Impfstoffen“, wird Türeci auf dem Portal „Markt und Mittelstand“ zitiert. Man teste aber unterschiedliche Verfahren auf diversen Plattformen. „Wir haben mRNA, auch andere innovative Ansätze wie etwa die Zellimmuntherapie.“ Neben Haut- und Hodenkrebs hat Biontech auch Darm-, Brust-, Lungen-, Magen- und Eierstockkrebs im Visier.