Interview: Schmerzmediziner Dr. Thomas Nolte rät vor planbaren Rücken-OP zur Zweitmeinung
Nicht alle Rückenoperationen, die durchgeführt werden, sind wirklich notwendig und im Sinne des Patienten. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Bertelsmann-Studie zur Rückenschmerz-Behandlung. Oft werde operiert, ohne die Ursache für den Rückenschmerz wirklich zu kennen, sagt der Wiesbadener Schmerzmediziner Dr. Thomas Nolte.
Von Eva Bender
Lokalredakteurin Wiesbaden
Eine Röntgenaufnahme. Foto: Fotolia/Syda Productions
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WIESBADEN - Nicht alle Rückenoperationen, die durchgeführt werden, sind wirklich notwendig und im Sinne des Patienten. Zu diesem Ergebnis kommt nicht nur die kürzlich ausgestrahlte ARD-Reportage „Operieren und Kassieren“, sondern auch eine aktuelle Bertelsmann-Studie zur Rückenschmerz-Behandlung. Oft werde operiert, ohne die Ursache für den Rückenschmerz wirklich zu kennen, sagt der Wiesbadener Schmerzmediziner Dr. Thomas Nolte. Er hat ein Behandlungskonzept mitentwickelt, das am Schmerzzentrum genutzt wird und eine Alternative zur Operation bietet. Der Arzt sagt: „90 Prozent der planbaren Rückenoperationen sind nicht medizinisch angeraten.“
Herr Dr. Nolte, laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie ist die Zahl der Rückenoperationen zwischen 2007 und 2015 um 71 Prozent angestiegen. Warum?
Rückenoperationen sind bundesweit auf einem dramatisch hohen Niveau und Hessen ist ein besonders schlechtes Beispiel. Über die notwendigen Eingriffe hinaus, haben Ärzte und Kliniken in den vergangenen Jahren ein Geschäftsmodell entdeckt und ausgebaut. Denn mit diesen Eingriffen lässt sich viel Geld verdienen. Die Honorare für eine solche OP liegen bei 4.000 bis 10.000 Euro. Zudem werden durch die zusätzlichen Operationen leere Betten gefüllt. Auch in Wiesbaden gibt es ein großzügiges Angebot.
Warum ist der Trend zur OP ein Problem für die Patienten?
Weil nicht jeder Patient dadurch gut versorgt ist. Häufig werden Patienten mit Rückenschmerzen operiert, ohne genau zu wissen, wo ihr Problem liegt. So kann es sein, dass der Schmerz durch die OP nicht behoben wird und sogar weitere Schädigungen entstehen. Es werden Schwachstellen geschaffen, die weitere Eingriffe nach sich ziehen. Das kann zu einer unumkehrbaren Chronifizierung führen. Deswegen ist es wichtig, schon vor der ersten OP abzuklären, ob sie wirklich Sinn macht. Wir wissen, dass ein Drittel der Rückenschmerzpatienten mit ihrer OP im Nachhinein nicht zufrieden ist. Eine medizinisch nicht begründbare Rücken-OP durchzuführen, ist Körperverletzung.
Zur Person: Dr. Thomas Nolte
Dr. Thomas Nolte ist Schmerz- und Palliativarzt und arbeitete im Schmerzzentrum Wiesbaden am Langenbeckplatz. Zudem ist er im Vorstand der Integrative Managed Care GmbH (IMC), die integrative Versorgungskonzepte entwickelt und umsetzt.
Er hat zwei Konzepte mitentwickelt, die an bundesweit 30 Schmerzzentren genutzt werden. Dadurch erhielten seit 2005 rund 15.000 Rückenschmerz-Patienten eine multimodale, nicht operative Behandlung und 2.000 Patienten seit 2010 eine zweite Meinung vor einer Rücken-OP. Diese Konzepte werden auch am Wiesbadener Zentrum genutzt.
Nolte ist zudem Vorsitzender des „Hospiz Palliativ Netzes Wiesbaden und Umgebung“.
Wie ist das überhaupt möglich?
Bei Rückenschmerzen gibt es eine große Bandbreite an Therapien, doch eine konservative, aufwendigere Behandlung – ohne OP – wird von den meisten Krankenkassen nicht längerfristig bezahlt. Bessern sich die Schmerzen nicht schnell, kommt deshalb oft die Frage nach einer OP auf, die das Problem scheinbar schnell beheben soll. Je länger die Schmerzen bestehen, je heftiger sie sind und je höher der Druck, schnell wieder arbeiten zu müssen, desto schneller wird ein Patient sich für einen Eingriff entscheiden.
Das Versorgungsstärkungsgesetz führte 2015 das Recht auf eine Zweitmeinung vor „mengenanfälligen“ Operationen ein. Hilft das den Patienten?
Es zeigt, dass sich die Politik um ein Problem kümmert, dass Krankenkassen und Versorger nicht lösen konnten. Doch einen erfahrenen Arzt für eine zweite Meinung zu finden, ist gar nicht so leicht, denn ein Orthopäde erhält für einen Patienten im Quartal gerade mal 30 Euro.
Sie haben ein Zweitmeinungskonzept mitentwickelt, das an Schmerzzentren umgesetzt wird. Mit welchem Ergebnis?
Wir haben bundesweit 1.383 Rückenschmerzpatienten untersucht und 1.275 von ihnen von einer OP abgeraten, weil die medizinische Notwendigkeit fehlte. Das sind 90 Prozent – ein erschreckendes Ergebnis.
Woher wissen Sie, dass die zweite Meinung die bessere war?
Wir haben die Patienten nach einem Jahr erneut befragt: Die überwiegende Mehrheit fühlte sich gut beraten und nahezu 100 Prozent ließen sich nicht operieren. Ein Rückenschmerz kann neben biologischen Ursachen auch durch psychologische oder soziale Probleme verursacht sein. Deshalb sind multimodale Konzepte nötig, an denen fehlt es aber bislang.
Was macht eine multimodale Behandlung aus?
Der Patient erhält einen individuellen Therapieplan, für den Physiotherapeuten, Schmerzmediziner und Psychologen zusammenarbeiten. Dieser Ansatz wird in Wiesbaden bislang leider nur vom Schmerzzentrum verfolgt und nur von der Techniker Krankenkasse und einigen BKKen für ihre Versicherten bezahlt. Ich werbe dafür, dass jeder Patient mit wiederkehrenden Rückenschmerzen, eine solche Behandlung erfährt, jede Versicherung sollte das anbieten. Denn neben dem individuellen Leid sind fehlversorgte Rückenschmerzpatienten auch ein erheblicher Kostenfaktor für unser Gesundheitssystem.
Wie erfolgreich ist das Konzept?
Die Ergebnisse zeigen, dass 80 Prozent unserer Patienten nach einer multimodalen Versorgung wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können.
Ist eine OP denn immer die schlechtere Lösung?
Es gibt Fälle, in denen eine Operation die beste Lösung ist. Wenn Nervenausfälle vorliegen, eine Blasen- oder Mastdarmstörung – dann muss es auch schnell gehen, damit der Nerv sich erholen kann.
Nicht nur die Zahl der Eingriffe, auch die der Rückenschmerzpatienten steigt. Woran liegt das?
Rückenschmerzen sind ein Zeichen unserer Zeit: ein Ausdruck starker sozialer Beanspruchung und chronischer Überforderung. Zudem bewegen sich Menschen heute weniger und ernähren sich falsch, sind oft übergewichtig. Es ist wichtig, all diese Aspekte in die Behandlung mit einzubeziehen. Mehr Operationen können nicht die richtige Antwort sein. Dafür müssen die Krankenkassen allerdings Alternativen anbieten.