Buchhändlerin Jutta Bummel war es gelungen, nach zwei Jahren coronabedingter Pause die Bestsellerautorin Katharina Fuchs für die Premierenlesung ihres neuen Buchs in die...
HOCHHEIM. Buchhändlerin Jutta Bummel war es gelungen, nach zwei Jahren coronabedingter Pause die Bestsellerautorin Katharina Fuchs für die Premierenlesung ihres neuen Buchs in die Buchhandlung Eulenspiegel einzuladen. Die 600 Seiten des autobiografischen Romans „Unser kostbares Leben“ haben es in sich. Selbst nach einem halben Jahrhundert bestand der Justiziar des Droemer-Verlags auf einer vollständigen Anonymisierung von Orten und Namen, für so brisant hielt er den Inhalt.
Deshalb schreibt die Autorin unter ihrem Mädchennamen über die fiktive Stadt Mainheim, die Schokoladenfabrik Cassada, die Chemiefabrik Ruberus AG und das abgeschirmte Versuchsgelände namens Keltengrund. Die ortskundigen Besucher der Lesung erkannten allerdings schnell die realen Gegebenheiten.
Das Buch ist unterhaltsam geschrieben, mit vielen persönlichen, schönen Erinnerungen an das Familienleben, an ritualisierte Schokoladenverkostungen und Vorträge beim Mittagstisch über Rohstoffpreise und Marktsättigung vom Vater, dem Direktor der Schokoladenfabrik. Aber auch an die drei 10 Jahre alten Freundinnen Caro, Minka und Claire. Es gab neben dem sehr beliebten Cassada-Schwimmbad viel zu entdecken in dieser Gegend. Doch je mehr die Autorin erzählt, umso befremdender erscheint uns heute der Zeitgeist der 1970er Jahre, der ungeklärte Industrieabwässer, einen umgekippten Fluss, der mal grün, mal orange, mal weiß schäumend keinerlei Leben mehr enthielt, als „Preis des Wohlstandes“ durchgehen ließ.
Die Autorin und die Freundinnen waren oft „ganz nah dran“ und bekamen die Schattenseiten dieser Zeit hautnah mit. Am Tag des Misstrauensvotums im Bundestag gegen Willy Brandt, am 27. April 1972, geschah ein schrecklicher Schwimmbadunfall. Die Verantwortlichen trafen sich anschließend beim Skat, wuschen ihre Hände in Unschuld, hüllten einen Mantel des Schweigens über den Fall und legten für eine Abfindung zusammen, für ein Schweigegeld an die Mutter, damit sie wegziehen sollte und wieder Ruhe einkehren konnte.
Schmutzige Deals wurden wie nebenbei geschlossen. Die Autorin berichtet von seltsamen Grundstücksverkäufen an das Chemiewerk, vom Bau einer Versuchsanstalt auf einem stillgelegten Bauernhof mit hunderten bellendenden, jaulenden, winselnden Tieren und von einem Tierpfleger, der das alles nicht mehr ertragen konnte. Er schleuste die Kinder nachts ein, zeigte ihnen die Ungeheuerlichkeiten, machte sie zu Zeitzeugen und schenkte ihnen eines der weißen Kaninchen.
Auf diesem gesicherten Gelände hinter dem doppelten Zaun und Stacheldraht obenauf, den Bewegungsmeldern und Scheinwerfern fanden unglaublich viele klinische Studien für Kosmetika, Arzneimittel und Impfstoffe statt. Bis ins Jahr 2010 hinein. Minka, eine der Freundinnen, radikalisierte sich, probte den Aufstand mit Flugblättern und allen möglichen Demonstrationen. Sie organisierte sogar ein Hüttendorf, als eine Autobahn durch den Vordertaunus gelegt werden sollte. Erfolgreich. Sie wurde nicht gebaut. Naturschutz- und Umweltbewegungen wurden geboren, vor allem die Jugend schloss sich ihnen an. Katharina Fuchs bestätigte in der Buchhandlung: „Ohne Menschen wie Minka gäbe es die Partei Die Grünen nicht.“
Im Buch kommt es noch schlimmer, aus Rezensionen erfährt man beispielsweise: „Besonders zu Herzen ging mir das Schicksal von Marita, die als Heimkind medizinischen Experimenten mit Psychopharmaka ausgesetzt war. Das Buch hat mich komplett gefangengenommen, zurückversetzt und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, selbst Teil der Geschichte zu sein.“
Nach der Lesung erzählte eine Besucherin, dass sie in der Flüchtlingsunterkunft Kastengrund Ausländern Deutsch-Unterricht geben sollte. Sie wurde ins Lager geführt, am Stacheldrahtzaun entlang, an Räumen mit dicken Türen und Sehschlitzen auf Augenhöhe vorbei. Sie hatte Angst, alles war unheimlich. War sie in einem Gefängnis?
Der Maintaunuskreis hatte das Areal der Sanovi-Aventis Tierversuchsanlage (185 Mitarbeiter) um 2010 erworben, Flüchtlinge darin untergebracht, auch zeitweise Teile des Landratsamts und Schulungsräume der Volkshochschule. Jetzt befindet sich dort das MTK-Corona-Impfzentrum und Besucher wundern sich über die extremen Sicherheitseinrichtungen. Inzwischen hat der Kreis das Gelände für 57 Millionen Euro an einen Rechenzentrumsbetreiber verkauft.
Jutta Bummel bedankte sich für die außergewöhnlich beeindruckende Lesung der sehr sympathischen Autorin und bedauerte, dass sie momentan nicht planen und weitere Lesungen nur kurzfristig ankündigen kann.