Vor über 30 Jahren, 7. Februar 1990: Nestlé Deutschland AG, Frankfurt; mein jour fix „Personal“ beim Vorsitzenden des Vorstandes Dr. Rudolf Bossle. Seine Sekretärin...
HOCHHEIM. Vor über 30 Jahren, 7. Februar 1990: Nestlé Deutschland AG, Frankfurt; mein jour fix „Personal“ beim Vorsitzenden des Vorstandes Dr. Rudolf Bossle. Seine Sekretärin stürmt herein: „Herr Bossle, der Herr Bundeskanzler für Sie am Telefon.“ Ich durfte bleiben. Helmut Kohl bat Nestlé, sich in der (Noch-)DDR zu engagieren, Firmen ggf. zu übernehmen und Personen zu benennen, die über die Arbeitgeber- oder Fachverbände helfen. Bundeskanzler Kohl: „Wir wussten nicht, was wir in der DDR vorfinden. Wir brauchen dringend Hilfe“.
Direkt nach diesem Gespräch fragte mich mein Chef, ob ich mir zutraue, Nestlé zu vertreten. „Für den Bereich Süßwaren – wenn Sie wollen – werden wir Sie benennen“. Ich wollte natürlich. Am 23. Februar hatte ich das erste Gespräch beim Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie Bonn. Drei weitere sollten folgen. Danach wurde die Verantwortung vom Süßwarenverband an die Deutsche Treuhand abgegeben. Ab da hatte ich einen kurzen Weg zur Außenstelle der Treuhand nach Weimar.
Am 13. März 1990 habe ich bei der heutigen Schokoladen-Firma Berggold in Pößneck je drei Tage in der Woche meine Wende-Hilfs-Arbeit aufgenommen. Vorgabe des Süßwarenverbandes in Bonn: Aus einer Nur-Fabrikationsstätte, herausgeschnitten aus einem Kombinat, ein sich selbst tragendes Unternehmen in Form einer GmbH zu formen bzw. hierzu die Voraussetzungen zu schaffen. Oder: Die Ablauforganisation so zu formen, dass ein bestehendes Unternehmen den Produktionsbetrieb übernimmt; gleichzeitig Aufbau eines kompletten kaufmännischen Bereichs.
In Pößneck habe ich außerordentlich nette Leute kennengelernt. Ich habe viele persönliche, politische und organisatorische Erkenntnisse gewonnen, sodass manches heutige Problem leicht zu verstehen ist. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (über 80 Prozent Frauen) war die Existenzangst verglichen mit anderen Kombinaten nicht allzu groß, denn die „Fabrik“ Berggold konnte ihre Wertigkeit auch über die Zeit der Zusammenlegung von Berggold und Rotstern zum Schokoladen VEB, Thüringen, im Jahr 1966 aufrechterhalten. Gegründet 1876, avancierte sie 1888 zum Hoflieferanten und durfte 1906 mit höchst gnädiger Erlaubnis und in Anerkennung hervorragender Produkte Wappen und Namen der Herzogin Charlotte von Sachsen-Meinigen tragen. Für Adels-Kenner: Charlotte war Prinzessin von Preußen, Tochter der englischen Königin Victoria und Kaiser Friedrich III. von Preußen.
Nach Ende des Krieges erfolgte 1947 die Enteignung und „die Überführung ins Volksvermögen“. Mit der Enteignung, auf Betreiben der Russischen Militär Administration (SMAD), ging noch dazu ein Wirtschaftsprozess wegen Kompensationsgeschäften gegen den letzten Eigentümer Erwin Rebling einher (siehe: Justiz und Diktatur und politische Strafjustiz, Seite 91 ff).
Rund 450 Mitarbeiter von Berggold hofften 1990 aus dem Kombinat/VEB herausgelöst zu werden. Neben der Gängelung, wussten viele auch von dubiosen Zahlungen an Kaderkräfte beim Rat des Kreises, die keiner kannte. Meine erste Einschätzung des Produktionspersonals: die Hälfte wird für die bisherige Aufgabe reichen. Hier begann meine organisatorische Aufgabe, denn es war nur eine Produktion und Fabrikation, also Herstellung und Konfektionierung. Alles was ein selbstständiges Unternehmen in Form einer GmbH ausmacht, fehlte. Um zu den Menschen einen Zugang zu finden, war es in den ersten Wochen nötig, viel zuzuhören und den Leuten abends locker aus meinem Arbeitsleben zu erzählen. Die problematische Selbsteinschätzung der Betriebsangehörigen zeigte mir der Satz: „DDR heißt: Der Dreckische Rest“. Gemeint war der außerordentliche Eliteverlust, auch der Wissenstransfer sowie die Sätze „wir einfachen Leute können ja nicht weg“ und „Die Guten sind rübergemacht“. Ich habe versucht, mit Verweis auf die Lebensleistungen und auch auf die hervorragenden Produkte, die Leute zu motivieren. Die sozialistische Erfahrung, die massive Unsicherheit vor Veränderung und die Scheu vor Neuem aus dem Westen, besonders vor den „großmäuligen Wessis“, das war die soziale Tages-Prägung, mit der ich zu tun hatte.
Von Klaus-Robert Jünemann