Fast alle deutschen Medien berichteten anlässlich des 50. Jahrestages über das Attentat in München vom 5. September 1972. In Hochheim wohnt ein Zeitzeuge, der damals ganz...
HOCHHEIM. Fast alle deutschen Medien berichteten anlässlich des 50. Jahrestages über das Attentat in München vom 5. September 1972. In Hochheim wohnt ein Zeitzeuge, der damals ganz nah dran war: Volker Zintel. Er war von 1984 bis 1990 Hochheimer Bürgermeister, danach Sicherheitschef der Fraport.
1972 leitete er bei den Olympischen Spielen eine Hundertschaft der Hessischen Bereitschaftspolizei. Im Interview mit der Hochheimer Zeitung schildert er seine damaligen Erlebnisse.
Herr Zintel, wie gut können Sie sich noch an die Ereignisse vor 50 Jahren erinnern?
Ich kann mich noch sehr gut erinnern. Fürstenfeldbruck war ein dauerhaft prägendes Ereignis in meiner Polizeiarbeit.
Wie alt waren Sie 1972?
Ich war 26 Jahre alt.
Wie kamen Sie zur Olympiade nach München und wo waren Sie untergebracht?
Das Interesse war groß. Es wurden nur Freiwillige mit umfassender Einsatzerfahrung genommen. Wir wohnten in der von den amerikanischen Streitkräften geräumten Warner-Kaserne in der Schleißheimer Straße, also im Norden Münchens.
Wie viel Bereitschaftspolizei war in München?
Es waren alle Bundesländer außer Berlin vertreten und der Bundesgrenzschutz.
Konnten Sie Wettkämpfe besuchen?
Wir bekamen an unseren dienstfreien Tagen Freikarten für nicht ausverkaufte Wettkampfstätten.
Wo waren Sie, als die Geiselnahme begann?
Wir hatten an diesem Tag frei und besuchten die Ruder-Wettkämpfe in Feldmoching. Während wir noch in der Sonne saßen, bot sich bereits Innenminister Hans-Dietrich Genscher im Austausch gegen die Geiseln an. Gegen 9 Uhr 30 wurden wir per Lautsprecherdurchsage gebeten, zu den Bussen zurückzugehen. Dort erfuhren wir von der Geiselnahme. In der Kaserne stellten wir dann mit den anwesenden Beamten eine Alarmhundertschaft zusammen.
Hatten Sie Angst?
Nein, wir kannten noch keine Details und behandelten das wie einen normalen Einsatz. Motorradkollegen führten uns zum Olympischen Dorf, um 11 Uhr waren wir in der Nähe der Connollystraße. Von der Einsatzleitung erfuhren wir von den Forderungen der Geiselnehmer und von der israelischen Ablehnung. Polizeipräsident Schreiber sprach es später auf seine direkte Weise so aus: Da Israel abgelehnt hatte, waren sie so gut wie tot.
Waren Sie am Befreiungsversuch im Olympischen Dorf beteiligt?
Um 16 Uhr wurde uns gesagt, dass bei Nichtverlängerung des Ultimatums um 17 Uhr die Wohnung gestürmt werden soll. Unsere Hundertschaft sollte die rechte Flanke übernehmen. In der Besprechung hätte man eine Stecknadel fallen hören. Wir wussten, dass keine der Polizeieinheiten für eine solche Lage ausgebildet war.
Wie ging es weiter?
Von diesem Plan rückte man wieder ab und gab uns den Befehl, zu einem neuen Einsatzort zu fahren. Motorradfahrer führten uns nach Fürstenfeldbruck. Wir wurden an einem hinteren Eingang von einem Pförtner ins Gelände gelassen. Wir verfügten über keinerlei Informationen, hatten keine Lagepläne, kannten uns auf dem kaum beleuchteten Flugplatz nicht aus. Die Funkverbindung war miserabel. Wir sahen die Boeing neben dem Tower und bekamen den Auftrag, das Flugfeld nach Norden zu sichern und lagen dann in Gräben gegenüber der Rollbahn. Die Hubschrauber landeten vor dem Tower. Anführer Issa inspizierte die Boeing, sah, dass sie leer war. Die Polizisten, die die Geiseln in der Boeing befreien sollten, hatten nicht an einen Erfolg geglaubt und eigenmächtig die Maschine verlassen. Nun wusste er, dass es keinen Abflug geben wird und dass er in einer Falle saß.
Begann nun das fatale Feuergefecht?
Ja. Scheinwerfer leuchteten plötzlich das Flugfeld taghell aus. Aus dem Tower heraus eröffneten Scharfschützen mit gewöhnlichen Sturmgewehren das Feuer. Fünf Scharfschützen gegen acht Terroristen. Sie hatten keine Funkverbindung untereinander und keine Zielabsprache. Nur ein Attentäter wurde im ersten Feuerstoß getötet.
Waren Sie beteiligt?
Ein Terrorist versuchte, in unsere Richtung zu flüchten, als er uns sah, machte er kehrt. Da die Geiselnehmer die Mündungsfeuer im Tower sehen konnten, schossen sie darauf und töteten einen Polizisten mit einem Kopfschuss. Das Feuergefecht dauerte Stunden, direkt vor uns wurde geschossen, Handgranaten geworfen, die Geiseln erschossen, der Hubschrauber brannte, wir hörten die Schreie. Das alles zog sich über Stunden vor unseren Augen hin. Zum Schluss stellten sich drei Terroristen tot und überlebten.
Sahen Sie die Opfer?
Auf dem Weg zur Abschlussbesprechung im Tower kam ich am Ereignisort vorbei und sah alles direkt vor mir, die Leichen der Geiseln und der Attentäter in ihrem Blut, den ausgebrannten Hubschrauber. Nichts war verändert worden. Alles blieb unberührt bis zur Tatortarbeit am frühen Morgen.
Wann erfuhren Sie von der Falschmeldung?
Ich hörte auf dem Weg zurück von Fürstenfeldbruck nach München im Radio die Nachricht von der angeblichen Geiselbefreiung. Ein Mitarbeiter des Olympischen Komitees hatte so etwas dahergeredet, ein Fernsehjournalist hatte es gehört und verbreitet. Diese Wunschnachricht schaffte es bis zum Regierungssprecher und dem Bundeskanzler. Als ich das hörte, verzweifelte ich angesichts des gerade erlebten Dramas fast.
IOC Präsident Avery Brundage sprach dann um 10 Uhr 30 in die Stadionlautsprecher: „The games must go on“. Was sagen Sie dazu?
Unter dem ersten Eindruck war ich für den Abbruch der Spiele. Ein paar Tage später war ich davon überzeugt, dass die Entscheidung richtig war.
Wie lange blieben Sie in München?
Zwei Tage nach dem Ende der Spiele fuhren unsere Hundertschaften zurück nach Mainz-Kastel in die Mudra-Kaserne.
Wie betrachten Sie das Attentat aus heutiger Sicht?
Man muss die damaligen ideellen Vorgaben für die Spiele kennen, um die Situation zu verstehen. Es sollten heitere Spiele werden, eine neue Generation der Deutschen empfängt die Jugend der Welt, in absoluter Distanz zu 1936 nichts Militärisches, keine Marschmusik und keine marschierenden Sportler, wenig Kontrollen, alles gewaltfrei, Ordnungskräfte in bunten Anzügen. Solche Vorgaben galten auch für die Polizei, die Ausstattung mit Waffen war minimal, Streifen waren unbewaffnet, Pistolen wurden verdeckt ohne Koppel getragen. Es gab damals keine Spezialeinsatzkräfte bei der deutschen Polizei, Gewalttaten oder gar Terrorismus wurden für unmöglich gehalten.
Welche Auswirkungen hatte das Attentat?
Es löste eine Zeitenwende für die innere Sicherheit in der BRD aus. Innenminister Genscher veranlasste den Aufbau von Sondereinsatzkommandos (SEK), Mobile Einsatzkommandos (MEK), Präzisionsschützenkommandos (PSK) und schließlich die GSG 9. Eine solche Zeitenwende erleben wir gerade wieder für die äußere Sicherheit durch den Ukraine-Krieg mit einem 100 Milliarden Sonderprogramm für die Bundeswehr.
Erlitten Sie durch die Erlebnisse 1972 ein nachhaltiges Trauma?
Es bewegt mich noch immer, was ich gesehen habe, aber ich leide nicht darunter. Bei der Polizei gibt es immer wieder schlimme Situationen, die professionell abgearbeitet werden müssen.
Das Interview führte Dietmar Elsner.