Es kann sich lohnen, hinter die Fassade zu schauen. Lars Wisotzky und Tobias Grollius befreiten das eher unscheinbare Haus Hintergasse 46 von Putz, Asbest und Styropor und...
HOCHHEIM. Es kann sich lohnen, hinter die Fassade zu schauen. Lars Wisotzky und Tobias Grollius befreiten das eher unscheinbare Haus Hintergasse 46 von Putz, Asbest und Styropor und entdeckten eine verborgene Schönheit. In dreijähriger nervenaufreibender Arbeit renovierten sie das Gebäude aus dem Jahr 1681 mit großem Einsatz und viel Herzblut. Es entstand ein außen originales und innen mit modernster Technik ausgestattetes gemütliches Wohnhaus.
Bildergalerie
Dieses Engagement wurde nun gewürdigt. Das Land Hessen zeichnete das Haus als „Denkmal des Monats“ aus: „Für besondere Verdienste und vorbildlichen Einsatz in der hessischen Denkmalpflege.“ Angela Dorn, Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst überreichte die Urkunde gut gelaunt außen von Fenster zu Fenster. Die Erste Kreisbeigeordnete Madlen Overdick, sie leitet die Denkmalpflege im Main-Taunus-Kreis, war aus Hofheim zum Gratulieren gekommen. Der Erste Stadtrat Hans Mohr vertrat die Stadt Hochheim. Das Haus wurde zusätzlich zur geschützten Gesamtanlage Hochheimer Altstadt zum Einzelkulturdenkmal erhoben.
Die Ministerin sprach anerkennend vom Vorbild in der Denkmalpflege, lobte die Verwendung von überwiegend ökologischen Baustoffen und war vom unvergleichlichen Charme des etwas schief stehenden Kulturguts beeindruckt: „Statt korrigierend einzugreifen, haben die Eigentümer die Gegebenheiten akzeptiert.“
Die Bauherren sind stolz auf die Auszeichnung und freuen sich, dass die Arbeit, die sie in das Kleinod gesteckt haben, gewürdigt wird. Sie möchten ein Beispiel für andere Besitzer von alten Häusern sein, auch in anderen Altstädten. Sie möchten Mut machen, weiteren Objekten die Chance zu geben, ihre verborgene Schönheit zu offenbaren.
Wisotzky wohnt seit 2005 und Grollius seit 2007 in Hochheim. Sie sind verheiratet: „Am 20. Januar 2018 traute uns die Standesbeamtin Stefanie Geis im alten Rathaus. Das war ganz toll, es war erst drei Monate vorher möglich geworden.“
Lars Wisotzky hatte vor ein paar Jahren bereits das Haus Hintergasse 50 gekauft und renoviert. Auf Dauer war es dann doch zu klein, zu niedrig, nicht optimal. Die beiden wollten jedoch auf jeden Fall in Hochheim bleiben: „Wir fühlten uns so wohl, dass wir nicht wegziehen wollten. Wir zeigen unserem Besuch die ganze Altstadt, den lebendigen Ort, den Markt, die Straußwirtschaften, gehen in den Weinbergen spazieren und haben drei Großstädte in der Nähe. Lars war bis zur Pandemie auch in der Mainzer Fassenacht aktiv.“
Als die Nachbarin Luzie Paul, die Witwe von Ernst Paul, dem ehemaligen Kellermeisters bei Graeger, pflegebedürftig wurde, stand das etwas größere Nachbarhaus Nr. 46 zum Verkauf. Die Eheleute Lars Wisotzky - Tobias Grollius erwarben das Gebäude 2016, um es zu renovieren, ohne zu wissen, welch wunderschönes Fachwerkhaus sie erwartet.
Historisches Gebäude mit Migrationshintergrund
Als die beiden 2019 mit der Renovierung begannen, erlebten sie eine Überraschung nach der anderen. Unter dem Putz der Fassade erschien ein Zierfachwerk. Aber viele Balken waren morsch, die Wandverkleidung marode, teils verschimmelt und an der Ostseite tauchten vier zugemauerte Fenster auf. Die passten nicht zu einem schlichten Wohnhaus, da steckte mehr dahinter. Das Landesamt für Denkmalpflege gab ein dendrochronologisches Gutachten zur Altersbestimmung in Auftrag. Hölzer wurden entnommen und von einem Fachlabor ausgewertet. Die Überraschung war perfekt.
Das Haus steht hier in Zweitverwendung, sozusagen gebraucht, ergab ein bauhistorisches Gutachten. Es wurde 1681 gebaut, vermutlich als Dorfrathaus irgendwo in der Region. Fast hundert Jahre später, 1768, wurde es nach Hochheim versetzt. Da schon damals Hölzer ausgetauscht werden mussten, lässt sich der Umzug datieren. Doch der Zustand des ehemaligen Dorfrathauses war deprimierend. Bekannte und Nachbarn kommentierten: „Was tut ihr euch da an!“
Doch für die Besitzer kam Aufgeben nicht infrage, sie begannen mit dem sogenannten Rückbau. Außen musste der ganze Putz runter, die Innenwände waren mit Styropor verkleidet und oft verschimmelt. Die Dächer der Nebengebäude waren mit asbesthaltigem Eternit verkleidet. Das ging an die Nerven: „Wir waren uns bei der Neugestaltung nicht immer einig. Es gab Reibereien. Lars ist kreativ pragmatisch, ich denke lieber nochmal nach“, erzählt Matthias Grollius.
Fachleute warnten, sie hatten bereits an solchen Objekten Ehen scheitern sehen. Doch die beiden machten weiter, drei Jahre lang. Unzählige Stunden Eigenleistung erbrachten sie bei den Planungen, bei Sondierungsarbeiten, beim anstrengenden und schmutzigen Rückbau, als Helfer beim Innenausbau. Immer wieder musste mitangepackt werden. Und das neben der fordernden hauptberuflichen Tätigkeit.
Mit ökologischen Natur- materialien instandgesetzt
Mit Hölzern aus alten Scheunen mussten einige Balken ersetzt werden. Das Fachwerk wurde mit ökologischem Naturmaterial gedämmt, mit Leichtlehmsteinen und Holzweichfaser, schichtweise eingetragener Lehm-Hanf-Schüttung, davor Schilfrohr. Diese speziellen Techniken und Arbeitsschritte erarbeiteten sie sich aus Handbüchern wie „Fachwerkinstandsetzung“ oder „Fachwerkhäuser restaurieren, sanieren, modernisieren“. Der Hanf kam aus der Uckermark, aus Kakaosäcken von Ritter Sport wurde Thermojute. Die Dämmung ist so gut, dass die Heizung nun überdimensioniert und auf 14 Prozent gedrosselt ist.
Nichts konnte fertig gekauft werden, alles ist anspruchsvolle Handarbeit auf Maß. Der schräge Boden wurde gelassen, die Fenster dem Fachwerk angepasst. Hohe Anforderungen wurden an die heimischen Handwerker gestellt. Dachdecker und Zimmermann Sebastian Pehl (Sulzbach) leistete hervorragende Arbeit, war bei auftauchenden Problemen immer schnell zur Stelle. Dies galt auch für Axel Hachenberger (Eltville), Dieter Assmann (Wörrstadt), Maler Hans-Dieter Maienschein, Holzland Klein und die Schlosserei Ralf Theis (Hochheim). Alle machten mit Begeisterung mit, solche Aufträge sind nicht so häufig. Sogar Freundschaften entstanden. Auf dem Dach wurde die Frankfurter Pfanne aus Beton durch authentische Biberschwanzschindeln aus Ton ersetzt. Die Giebelseiten wurden mit echtem Schiefer verkleidet.
Modernes und smartes Leben in einem Denkmal
Technik auf aktuellen Stand zog in die 107 Quadratmeter große Wohnfläche ein. Nicht nur Bad und Küche, das ganze Haus wurde zu einem sogenannten Smarthome. Es gibt keine Lichtschalter. Heizung, Licht, Fernsehen, Küche usw. werden per Smartphone, Sensoren oder einfach durch Zuruf gesteuert. Alexa macht das Licht an und aus.
Die Einrichtung strahlt einen unvergleichlichen Charme aus. Antiquitäten wie eine elsässische Truhe oder eine originale Knechtbank und ein Ofen mit sichtbarem Holzfeuer sowie die vielen alten Holzbalken machen die Räume gemütlich. Ein geschnitzter Bischof, so alt wie das Haus, steht im Regal, von hinten beleuchtet. Jeder der beiden Ehepartner brachte seine Ideen und Wünsche ein. Eine hochinteressante Symbiose aus antiker Bausubstanz und modernem Leben entstand. Die Ministerin nannte es treffend: „Modernes Leben im Denkmal.“
Doch noch ist nicht alles fertig. Die Gartengestaltung, die Terrasse und ein neues Hoftor stehen noch an. Auf die Frage, ob sie es nochmal machen würden, denken die beiden eine Weile nach: „Jetzt erst mal nicht. Es hat sich sehr gelohnt, war jedoch schwer verträglich mit den anstrengenden Vollzeitjobs. Aber jetzt fühlen wir uns erst einmal sehr wohl. Hier können wir auch in höherem Alter noch lebenswert wohnen.“