Rüsselsheimer Kunstpfad: Bildungsbürgertum lässt...

Kunst oder Krempel am Mainufer? Auf Facebook sind die Rüsselsheimer gegen die Kunst im öffentlichen Raum. Foto: André Hirtz
© André Hirtz

Der Kunstpfad in Rüsselsheim war gut gemeint. Kulturdezernent Dennis Grieser hatte sich das Projekt zu eigen gemacht, um der Stadt ein kultiviertes Entree, ein attraktives...

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RÜSSELSHEIM. Dröhnendes Schweigen im Internet. Die Beckmesser salbaderten verlässlich ihre Litanei aus „Mist! Schrott! Schund!“ und noch derberen Gemeinheiten, aber niemand widersprach. Es schien, als sei das Rüsselsheimer Bildungsbürgertum wild entschlossen, sich durch duldsame Enthaltung selbst abzuschaffen. Weg, raus aus Rüsselsheim, ins geschützte Refugium privater Anonymität - nur nicht mit den Krakeelern auf eine Ebene, um sie in die Schranken zu weisen.

Dabei war der Kunstpfad gut gemeint. Kulturdezernent Dennis Grieser hatte sich das Projekt zu eigen gemacht, um der Stadt ein kultiviertes Entree, ein attraktives Lebensumfeld zu verschaffen. Doch heute steht der Bürgermeister mit zwei Skulpturen alleine da, ohne Befürworter, ohne lautstarke Unterstützer. Wie konnte das geschehen?

Den Shitstorm nimmt Grieser gelassen hin

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Die Bevölkerung sei nicht gefragt worden, lautet einer der Hauptvorwürfe, es sei über die Köpfe hinweg entschieden worden. Tatsächlich war es ganz anders. Nachdem Fachleute des hessischen Kunstbeirates eine Auswahl aus den Bewerbungen getroffen hatten, waren zwölf Entwürfe öffentlich ausgestellt worden. Es gab zahlreiche Rückmeldungen: 70 Kommentare, teils sehr ausführlich, nahmen für und wider Stellung. Der „informierte Teil der Bevölkerung“, so sagt es Grieser, habe sehr wohl am Findungsprozess teilgenommen, auch wenn er heute schweigt.

Den Shitstorm in den sozialen Netzen nimmt der Dezernent gelassen hin. Er betrachtet ihn als „Wert an sich“, schließlich gehe es in der Kunst um den Diskurs. Es sei nicht ihre Aufgabe, Antworten zu liefern, sondern Fragen zu stellen. „Kunst darf sein - ohne Zweckbestimmung. Sie spielt sich im geschützten Raum ab - ohne ökonomischen Mehrwert“, sagt er. Allerdings erfordere die gebotene Kommunikation zwei Seiten: Sender und Empfänger.

Fotodokumentationen auf städtischer Homepage

Grieser wundert sich. Mario Herguetas „Heimat“-Skulptur bearbeite doch auf abstrakte Weise ein Thema, das noch beim Hessentag als ungemein positiv ausgestaltet wurde. Özlem Günyols und Mustafa Kunts noch nicht realisierte Bank-Skulptur „Where am I? As if in a dream ... Did we arrive?“ zeichne formal die mittlerweile geschlossene Flüchtlingsroute von 2015 über den Balkan nach - für den Kulturdezernenten Anlass zum Nachdenken in vielerlei Richtungen: „Ich kann falsch liegen, aber die Bewertung dessen, was passiert ist, wird sich im historischen Kontext ändern. Die Helferkultur war ebenso übertrieben wie die Abschottungstendenzen. Aber die Aufnahme der Flüchtlinge war keine kleine Leistung, sondern ein großer humanitärer Akt.“ Und: Es sei wichtig, die Ereignisse im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Vor diesem Hintergrund sei das Rüsselsheimer Kunstwerk ein originäres Denkmal.

Das erkennen jene nicht, die sich nur vom persönlichen Gefallen leiten lassen. Ihnen die Kunst zu erklären, bleibt Griesers Absicht. Schon heute geben Fotodokumentationen auf der städtischen Homepage die Möglichkeit, sich über die realisierten Arbeiten zu informieren. Im Frühjahr wird es eine akademische Feier zur offiziellen Einweihung des Kunstpfades geben. Danach sind geführte Rundgänge, auch für Schulklassen, geplant. In der Grundschule Innenstadt haben Schülerinnen und Schüler eigene Entwürfe für einen Kunstpfad gezeichnet und ausgestellt.

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"Eine Fortsetzung des Kunstpfades war von Anfang an nicht ausgeschlossen"

Ob all das hilft? Wohl kaum, wenn das Rüsselsheimer Bürgertum weiterhin hartnäckig in vornehmer Zurückhaltung verharrt. Die Vernissage-Gäste in Opelvillen und Kunstverein, die Konzertgänger aus dem Stadttheater, die Sympathisanten von Synagoge, Stadtpark oder Festung - kurzum: das wohlwollende Publikum muss seine Stimme erheben, sonst geht die Kommune in wohlfeiler Eventisierung und kulturellen Marginalien unter.

Noch einmal der Kulturdezernent: „Es ist wichtig, mit den Kunstwerken zu arbeiten - etwa den Heimat-Begriff auf die Rüsselsheimer Realität herunterzubrechen. Ich habe von Anfang an gesagt, dass wir - an den ,Leinreiter‘ anschließend - Themen bearbeiten wollen, die für Rüsselsheim prägend waren. Eine Fortsetzung des Kunstpfades war von Anfang an nicht ausgeschlossen. Mal sehen, was die Zukunft bringt...“

Von Stephan A. Dudek