
Das neue Buch des Stadt- und Industriemuseums widmet sich der Industrialisierung der Stadt und schaut nicht nur auf Opel.
Rüsselsheim. Gerade noch rechtzeitig vor ihrem Wechsel als Leiterin an das Hagener Freilichtmuseum für Handwerk und Technik konnte Bärbel Maul jetzt eine Art Vermächtnis ihrer Zeit als Leiterin des Rüsselsheimer Stadt- und Industriemuseums vorlegen. „Maschinenzeit“ ist das knapp 340 Seiten starke Buch betitelt, das die Entwicklung Rüsselsheims vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges anhand der Museumssammlung beleuchtet und an einen ersten, bereits erschienen Band anknüpft, der die Anfänge bis zur frühen Neuzeit zum Inhalt hat.
Ergebnis von vielen Jahren Arbeit
„Ich bin sehr froh, dass es noch rechtzeitig gelungen ist“, sagte Maul, die am 2. Oktober ihren letzten Arbeitstag in Rüsselsheim hat, bei der Vorstellung des Buches im Lesesaal des Museums. Viele Jahre hätten sie und ihre Mitautoren Jens Scholten, Cornelia Röhlke und Gudrun Senska an dem Projekt gearbeitet. „Das sind alles Leute, die noch tausend andere Aufgaben haben“, beschrieb Maul die Bedingungen, unter denen die Autoren gearbeitet haben.
Rüsselsheimer Geschichte für Rüsselsheimer
Mit dem nun vorgelegten zweiten Band liege ein „gut lesbares Geschichtsbuch“ vor, das die gesamte Rüsselsheimer Historie anhand einzelner Exponate der Dauerausstellung abdecke, so Maul. „Es soll Spaß machen, darin zu schmökern“, beschreibt sie den Anspruch. Und es ist den Autoren tatsächlich gelungen, in 18 Kapiteln ein interessantes und zuweilen kurzweiliges Bild Rüsselsheims zu zeichnen, ohne an Anspruch einzubüßen. „Rüsselsheimer Geschichte für Rüsselsheimer“, soll der Band sein, „für jeden lesbar und verstehbar“, betonte Maul. Die große Weltgeschichte solle am Beispiel Rüsselsheim erzählt werden. Und zwar anhand gesicherten Wissens, wie Maul den Anspruch der Arbeit betonte. „Es geht nicht um die 150. Anekdote von Adam Opel.“
Es wird nicht nur auf Opel geblickt
Und so spannen die mit hochwertigen Fotografien von Exponaten der Dauerausstellung illustrierten Aufsätze den Bogen vom Weg Rüsselsheims zur Industriestadt bis zum Leben und Wirtschaften im Zweiten Weltkrieg. Einer der Schwerpunkte ist zwangsläufig die Firma Opel, wenngleich man Wert darauf gelegt habe, auch andere Aspekte der Industrialisierung der Stadt zu betrachten, so Maul. Die Zichorien- und Fruchtkaffee-Fabrik Engelhardt findet ebenso Erwähnung wie die kleine Chemiefabrik, die allerdings nur wenige Jahre existierte. Doch auch der Blick auf Opel kann noch neue Details zutage fördern. Zum ersten Mal sei mit der Veröffentlichung das Thema „Frauen bei Opel“ aufgearbeitet worden, lobt Maul die Arbeit von Cornelia Röhlke.
Wie wächst die Stadt mit der Industrie?
Ein großer Teil des Buches widmet sich nicht der industriellen Entwicklung selbst, sondern den Begleiterscheinungen in einer wachsenden und aufstrebenden Stadt, die ihre Infrastruktur der rasanten Entwicklung anpassen muss. Der Beginn der kommunalen Wasserversorgung wird ebenso geschildert, wie die Einführung der kommunalen Müllabfuhr oder die Elektrifizierung Rüsselsheims. Auch bei diesen, auf den ersten Blick eher spröde wirkenden Themen, gelingt durch Bebilderung, Quellenwahl und Erzählweise eine so lokale Betrachtung und Verortung, dass ein interessantes Geschichtslesebuch daraus wird. Darin wird auch vom Arbeitskräftehunger des Opel-Werks berichtet, das seine Belegschaft aus immer weiter entfernten Ortschaften rekrutierte und mit eigenen Bussen zu den Schichten transportierte.
Immer wieder eingestreute und eigens gestaltete Zweiseiter widmen sich thematisch passenden und ausgewählten Exponaten der Dauerausstellung und erzählen ganz eigene Geschichten. Etwa, wie der Rüsselsheimer Christian Michel an ein Zigarettenetui des russischen Zaren kam, wie technischer Fortschritt den Siegeszug des Niederrades befeuerte oder was Chio-Chips mit der Familie Opel zu tun haben. Eine Besonderheit hält das Buch auch bereit. Der auf Seite 100 abgebildete Pokal, der 1888 sieben Opelarbeitern für 20-jährige Tätigkeit überreicht wurde, ist nicht Teil der Dauerausstellung und aktuell nur im Buch zu bewundern.
Beitrag zur Identitätsbildung
Bürgermeister Dennis Grieser (Grüne) lobte das Buch als bedeutenden Beitrag zur Identitätsbildung. „Es ist wichtig für die Stadtbevölkerung, so etwas zu haben.“ Zielgruppe seien die Rüsselsheimer Bürger sowie weiterführende Schulen. Finanziert wurden die 1400 Exemplare zu zwei Dritteln durch die Stadt und zu einem Drittel aus einem Nachlass des im Oktober 2017 verstorbenen Rüsselsheimer Deutsch- und Geschichtslehrers Peter Hörr. „Dies zeigt, dass solche Vermächtnisse sinnvoll verwendet werden können“, so Grieser. Die Stadt unterstütze Rüsselsheimer Schulen in Sachen Heimatkunde durch die Übernahme aller Kosten bei Besuchen im Stadt- und Industriemuseum.
Im Jahr 2018 hat das Museum eine Einzelbesucherbefragung durchgeführt. Knapp zehn Prozent der auskunftsbereiten Besucher kamen aus Rüsselsheim. Bei den Besuchern, die das Museum in Gruppen besucht haben, ergibt sich ein anderes Bild: Hier kamen von 442 Gruppen 260 aus Rüsselsheim. Die Daten beziehen sich auf das Museum insgesamt, also Dauer- und Sonderausstellungen.
Geld und Platz für Sammlungserweiterung fehlen
Die Erweiterung der Museumssammlung sei aktuell nicht einfach, so Bärbel Maul. Man verfüge weder über genügend Platz noch Geld, um die Sammlung gezielt zu erweitern, beobachte die Situation aber genau. So hätten vor kurzem neue Exponate gesichert werden können, nachdem die Abteilung Messtechnik bei Opel aufgelöst worden sei. Die zunehmende Digitalisierung mache die Anschaulichkeit aber zunehmend schwieriger.
Das Stadt- und Industriemuseum auf Google Maps