Raus aus der Zuschauerkrise: Es brummt im Staatstheater

aus Coronavirus-Pandemie

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Die guten Geister haben viel zu tun: Licht (Naffie Janha) und Riese (Jörg Zirnstein) sorgen sich um das Seelenheil eines Geizhalses. Szene aus dem Stück „Scrooge”, das  im Staatstheater Darmstadt 25.000 Zuschauer erreichen könnte.

Spielplan-Strategie geht auf: Oper, Musicals und Weihnachtsstück machen in Darmstadt das Große Haus voll. Ist das Long-Covid-Syndrom der Kunst überwunden?

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Darmstadt. Das hat man lange nicht mehr gelesen: „Ausverkauft“ und „Restkarten“ prangt immer wieder auf dem Spielplan. Und dort, wo kein solcher Hinweis steht, gibt es auch gar nicht mehr so viele Plätze. Vor Weihnachten brummt es im Staatstheater wieder. Hat die Kultur ihre Long-Covid-Krise etwa überwunden? Schauen die Leute angesichts Zehn-Prozent-Inflation doch nicht so sehr aufs Geld, wie befürchtet?

Nun, nicht überall ist so viel los. Klickt man sich etwa durchs Angebot des Schwester-Staatstheaters in Wiesbaden, ist die Auswahl freier Plätze augenscheinlich größer. Der Deutsche Bühnenverein meldet auf Anfrage nach schleppendem Saisonstart immerhin wieder steigende Besucherzahlen: „Die großen Opernhäuser haben diesen positiven Trend bereits Anfang November konstatiert“, schreibt Direktorin Claudia Schmitz. In Darmstadt ist der Trend besonders ausgeprägt. Nicht nur in der Oper.

Intendant zeigt sich dankbar

Von August bis Jahresende geht die Geschäftsführende Direktorin Andrea Jung von rund 65.000 verkauften Karten aus – und das, obwohl das Kleine Haus (rund 480 Plätze) ja wegen Sanierung geschlossen ist, das Sprechtheater in den Kammerspielen nur 200 Plätze bieten kann. Die Auslastungsquote liegt bei 81 Prozent, wobei „alle Sparten erfreulich dicht beieinander sind“, wie Jung betont. „Wir sind dankbar, dass wir so einen Lauf haben“, sagt Intendant Karsten Wiegand im Gespräch mit dieser Zeitung.

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Offenbar geht die Spielplan-Strategie auf: Die wichtigen Premieren wurden bis Mitte November gesetzt, sodass sich nun eine Besucherwelle aufbauen kann. Das Staatstheater bietet vor allem im großen Haus große Namen. Neben „Don Giovanni“ ist von Mozart auch noch die Wiederaufnahme der „Zauberflöte“ in einer Familienfassung dazugekommen. „Turandot“ ist auch im Repertoire. Gleich zwei Musicals – „Saturday Night Fever” und „Last Five Years” – sind zu sehen. Und anders als oft erlebt, laufen nun auch die Wiederaufnahmen. Offenbar spricht sich der Erfolg rum.

Szene aus der Staatsballett-Choreografie „Skid“ im erfolgreichen Doppelabend „V/ertigo”.
Popstar im Musical: Alexander Klaws in „Saturday Night Fever“. Die Show ist ein Dauerbrenner in Darmstadt
Die schräge Revue "Shockheaded Peter" findet in den Kammerspielen des Staatstheaters viele Freunde.

Das Ballett bietet nach dem begeisternden Doppelabend „V/ertigo“ nun auch als Weihnachtsklassiker wieder den „Nussknacker“. Das Familienstück „Scrooge“ ist ein pfiffiger Spaß geworden. Was die Zuschauerzahlen betrifft, ist diese Position ja immer sehr wichtig, gehen doch fast tausend Menschen ins Große Haus. Und diese „Weihnachtsgeschichte“ nach Charles Dickens wollen offenbar alle sehen. Jedenfalls wurden acht Zusatzvorstellungen eingeschoben. Nach 33 Aufführungen können 25.000 Besucher erreicht sein, kalkuliert die Verwaltung. 

Aber auch in den Kammerspielen sind „Homo Faber“ nach dem Roman von Max Frisch und die morbide Revue „Shockheaded Peter“ nach dem „Struwwelpeter“ erfreulich oft ausgebucht. Karsten Wiegand betont aber: „Es läuft in der Breite gut. Ich glaube, dass sich die Öffnung des Hauses, der Versuch, für möglichst viele Zielgruppen relevant zu sein, hier niederschlägt.“ Auf jeden Fall scheint der Zuschauerzuspruch eine Eigendynamik zu entwickeln.

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Publikum wird spontaner

Schon vor der Pandemie habe man gesagt: „Eine Spielzeit, die gut anläuft, läuft gut“, merkt der Intendant an. Oder um es mit den Worten von Andrea Jung zu sagen: „Volle Vorstellungen ziehen volle Vorstellungen nach sich.“ Wobei sich die Zuschauer immer kurzfristiger entscheiden. „Fast 30 Prozent der finalen Belegung verkaufen sich aktuell eine Woche vor der Vorstellung“, heißt es in einer Analyse des Theaters. Doch während man vor einem halben Jahr dann noch eine breite Auswahl hatte, sieht es jetzt anders aus: immer öfter eben „ausverkauft“. Karsten Wiegand schmunzelt: „Es gibt einen Lerneffekt in Darmstadt: Da gibt’s ja gar keine Karten mehr!“ Derzeit muss man fix sein.

Und der Andrang könnte anhalten. Zwar geht es nach dem Fest meist etwas ruhiger zu, doch auch im Januar sehen die Saalpläne bisweilen schon ganz gut gefüllt aus. Rund 15.000 Karten sind schon für 2023 weg. Und das, obwohl ein Drittel der Abonnements im Laufe der Pandemie weggefallen ist. „Wir versuchen verstärkt, flexible, zeitgemäße Abo-Konzepte weiterzuentwickeln“, sagt Andrea Jung. Das Bildungsbürgertum mag aussterben, vor allem aber verhalten sich die Stammgäste mittlerweile offenbar anders, glaubt Karsten Wiegand. Der Theatertermin als gesellschaftliche Verabredung werde immer weniger wichtig. „Die Leute kommen nicht mehr, weil man eben hingeht, für ihr Selbstverständnis, sondern weil sie was erleben.“ Und was das betrifft, hält der Spielplan im erstem Quartal 2023 auch noch einige klangvolle Titel parat: „Bolero“ im Ballett, die Romanadaptionen „Mario und der Zauberer“ im Schauspiel und die Opern „La Traviata“, „Lulu“ und „Eugen Onegin“ im Musiktheater.