Ihr Roman „Alle, außer mir“ verknüpft italienische Geschichte mit einem Flüchtlings- und Familiendrama: Darüber erzählte Francesca Melandri bei ihrer Lesung in Darmstadt.
Von Johannes Breckner
Redaktionsleiter Bergsträßer Echo
Francesca MelandriAlle, außer mirRoman, aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach-Verlag, 608 Seiten, 26 Euro.
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DARMSTADT - Damit hatte Francesca Melandri nicht gerechnet. Als die Autorin ankündigte, außer der ersten nur die letzte Seite ihres Erfolgsromans „Alle, außer mir“ auf Italienisch zu lesen, erhob sich ein Murren im großen Publikum der Darmstädter Stadtkirche. Immerhin waren etliche Mitglieder der mitveranstaltenden Dante-Gesellschaft mit einschlägigen Sprachkenntnissen gekommen. Eine Originalausgabe hatte Melandri gar nicht dabei, aber das nützte ihr nichts. Ein Literaturfreund zauberte den italienischen Text aufs Display seines Telefons, und so gab es eine Extra-Portion Italienisch, auch deshalb schön, weil Melandri ihre Erzählung sehr temperamentvoll in Szene setzt.
Größer als das technische Wunder war beim Literarischen Herbst am Mittwochabend aber das Staunen darüber, wie es Melandri und der Moderatorin Bianca Schamp gelang, im italienisch-englisch-deutschen Sprachmix ein plastisches Bild dieses großen Romans zu zeichnen. Er umspannt ein ganzes Jahrhundert: Ilaria entdeckt mit der Geschichte ihres Vaters ein dunkles Kapitel italienischer Geschichte. Der 1915 geborene Attilio Profeti, dessen Tod die Handlung eröffnet, wird von Melandri als „geborener Faschist“ beschrieben. Dass er auch am blutigen Kolonialkrieg in Abessinien beteiligt war, erfährt die Tochter erst, als ein schwarzer Flüchtling vor ihrer Tür steht, der ebenfalls Attilio Profeti heißt, wie sein Großvater.
Melandris Roman beschreibt ein Land der abgeschnittenen Erinnerung. Viele italienische Leser haben in ihrem Buch das eigene Schweigen der Familie erkannt. Ganz am Ende vergleicht die Autorin den Tod eines Menschen mit dem Brand einer Bibliothek, der Bücher verschlingt – und manche hat nicht einmal der Sterbende gelesen. Es ist der einzige private Text, den Melandri in ihren Roman eingebunden hat, sie hat ihn zum Tod ihres Vaters geschrieben. Ansonsten hat sie sich auf gründliche Recherche verlassen, auch bei der Beschreibung des Flüchtlingselends, die keine realen Figuren abbildet, aber wahre Begebenheiten erzählt. „Ich verschlinge die Realität, bevor ich schreibe“, sagt Melandri und lässt charmant die Erklärungen zu ihrem Buch sprudeln. Nur einmal denkt sie lange nach, als Bianca Schamp sie fragt, ob sie mit der Schilderung des Elends geflüchteter Menschen ihre Leser aufrütteln wolle. Ein Roman, sagt sie schließlich, sei keine Predigt. Sie müsse die Menschen ja nicht mit der bösen Welt konfrontieren. Es reiche, sich von zwei Gedanken leiten zu lassen. Die Figuren müssen mit Würde behandelt werden, selbst der bestialische Kolonialdiktator verdient die Empathie des Autors. So etwas gelingt nur in präzisen Worten. „Das ist meine Verabredung mit den Lesern“, sagt Melandri: „Ich schreibe in der besten Sprache, die ich zur Verfügung habe.“
Francesca MelandriAlle, außer mirRoman, aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach-Verlag, 608 Seiten, 26 Euro.
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JAZZ UND LITERATUR IN DER STADTKIRCHE
Das Kulturprogramm der Darmstädter Stadtkirche bietet in den nächsten Tagen mehrere Höhepunkte. An diesem Freitag, 12. Oktober, tritt Büchnerpreisträger Jan Wagner mit dem Jazzpianisten Sebastian Sternal in der „Live Butterfly Show“ auf.
Das Jazzkonzert am Samstag, 13. Oktober, um 19.30 Uhr ist eine Hommage an Louis Armstrong, dessen Musik vom Trompeter Axel Schlosser und seinem Quartett neu interpretiert wird.
Am Sonntag, 14. Oktober, ist ab 11.30 Uhr der US-Erfolgsautor Paul Beatty zu Gast in Darmstadt, der gemeinsam mit Bianca Schamp seinen Roman „Der Verräter“ vorstellt, die Satire über eine Gesellschaft, die ihre ethnische Spaltung noch nicht überwunden hat.
Mit Natalia Mateo am Sonntag, 14. Oktober, um 19.30 Uhr bereichert eine vielseitige Sängerin die Reihe „Live!Jazz“: Mateo stellt ihr neues Album „De profundis“ vor. (job)