Die neue Poetikdozentin Nora Bossong stellt sich in der Hochschule Rhein-Main vor
Nora Bossong schreibt Romane und Gedichte, für Wochenzeitungen auch Reportagen. Sie ist die 20. unter deutschsprachigen Autoren, die diese Dozentur für Poetik wahrnehmen.
Von Viola Bolduan
Die Autorin Nora Bossong stellt sich als neue Poetikdozentin an der Hochschule Rhein-Main vor.
(Foto: Volker Watschounek)
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WIESBADEN - Mit Rollkoffer fährt sie in den Clemens-Klockner-Saal der Hochschule Rhein-Main. Nora Bossong kommt zu ihrer Vorstellung als Poetikdozentin dieses Semesters zwar rechtzeitig, aber doch sehr unmittelbar vom Wiesbadener Bahnhof. Die Anschlüsse zwischen Hotel, Flughafen und S-Bahn waren knapp – Probleme dieser Art gehören zum Alltag, wird die 36-Jährige später sagen – und just Alltag aber nicht zu ihren Themen.
20. Autorin, die Dozentur für Poetik wahrnimmt
Nora Bossong schreibt Romane und Gedichte, für Wochenzeitungen auch Reportagen. Nach Jan Wagner in der vergangenen Saison ist sie die 20. unter deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, die an der Hochschule in Kooperation mit der Stadt diese Dozentur für Poetik wahrnehmen. Hochschulpräsident Detlev Reymann begrüßt und macht neugierig auf den neuen Hochschulkalender 2019 mit Motiven aus den Poetikdozenturen, Soziologieprofessor Michael May moderiert das erste Gespräch mit Nora Bossong. Es gibt sie nämlich tatsächlich – nicht nur eben als fiktive Figur desselben Namens in der Erzählung „Recherche“ von Nora Gomringer. Zumindest habe die Kollegin damit den Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 gewonnen, sagt die leibhaftige Nora Bossong und hat ohnehin keine großen Einwände gegen einen Austausch zwischen Fakt und Fiktion. Die eigenen Fakten bei Anlage eines Prosawerks unterliegen ja auch einer Eigendynamik, erklärt sie, und zum Schluss „stimmt alle Berechnung nicht.“ Zwischen ihrem Studium und dem letztveröffentlichten Roman „36,9 Grad“ freilich stimmt der Bezug: Kulturwissenschaft war ihr Lieblingsfach und Antonio Gramsci ist deren Gründungsvater. Dem marxistischen Philosophen Italiens widmet Nora Bossong ein Buch, das „politische Theorie“ und „emotional Privates“ verknüpfen soll unter der Frage: „Kann man eine Masse lieben, wenn man sich selbst für nicht liebensfähig hält?“ Spannungen dieser Art interessieren sie, wie sie selbst sie auch in Jugendjahren als Katholikin unter Protestanten kennengelernt hat. Bossongs zweiter Roman „Webers Protokoll“ analysiert wiederum ein anderes Problem: Wie kann aus unlauteren Motiven dennoch Heilsames entstehen? Im Buch rettet ein deutscher Diplomat Juden, weil er Geld braucht. Hier wirkt „menschliche Mittelmäßigkeit“, die „uns auch am meisten entspricht“, kommentiert die Autorin – und „Mittelstand prägt die Gesellschaft.“
Bürokratie allerdings ebenfalls. Also würdigt Nora Bossong auch sie, und zwar in Gedichtform. In Kürze wird der Band „Kreuzzug mit Hund“ im Suhrkamp Verlag erscheinen. „Anlage IV“ und „Formblatt VI“ liest sie daraus vor – sehr zur Freude des Moderators, denn Professor May scheint auf solcherart Formblätter und Anlagen ebenso verzichten zu können, wie Nora Bossong auf den selbst erlebten Albtraum unsäglicher Universitäts-Bürokratie. Im neuen Gedichtband aber geht die Reise dann doch auf den Spuren der Kreuzritter nach Nahost, wobei ein „Orient“ gestreift wird, der Name steht für ein Stundenhotel in Wien. Hier hat Bossongs Reportage „Rotlicht“ (2017) ihre Spuren hinterlassen.
„Ich möchte die Gegenwart verstehen“, antwortet die Poetikdozentin auf die Frage nach ihrem Interesse an Geschichte. Und sagt dann doch auch: „Ich lerne am meisten, wenn ich schreibe.“ Sie schreibt, wie sie in der Vorstellungsrunde auch antwortet: klar und präzise, kühl und distanziert. Zur Poetik in der Hochschule hat sie eine dezidierte Meinung: „Literatur kann mehr als Wissenschaft.“ Am Dienstagabend, 19.30 Uhr, wird Nora Bossong in der Hochschul- und Landesbibliothek ihre erste Vorlesung halten. Sie will über ihren jüngsten Roman sprechen, der auf dem Hintergrund der Vereinten Nationen von einer Dreiecksgeschichte erzählt.