Wiesbadener RAF-Geschichte auf der Bühne

Zielübungen eines Terroristen, erst einmal auf Tauben: Paul Simon in „Verlorene Kämpfer“. Foto: Karl & Monika Forster
© Karl & Monika Forster

„Verlorene Kämpfer“ in der Wartburg des Wiesbadener Staatstheaters knüpft an lokale Ereignisse an und erzählt von der dritten Generation der „Rote Armee Fraktion“.

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WIESBADEN. Auf einer Doppelseite im Programmheft ist das Stadtgebiet von Wiesbaden zu erkennen, und ein paar Orte sind markiert. Der Western Saloon in der Dotzheimer Straße zum Beispiel, in dem Birgit Hogefeld den US-Soldaten Edward Pimental aufgabelt und mit sexuellen Versprechungen in den Stadtwald lockt. Dort wird er wenig später ermordet werden, sein Ausweis wird von den RAF-Terroristen für den Anschlag auf die Rhein-Main-Airbase gebraucht. Die Kirche in Biebrich, wo Hogefeld Orgelunterricht gab. Das Café, in dem Klaus Steinmetz arbeitete, der sich für den Verfassungsschutz in der Terrorszene umtat. Die Wohnung in der Wellritzstraße, in der Birgit Hogefeld mit Wolfgang Grams lebte, mit dem sie auf dem Bahnhof von Bad Kleinen festgenommen wurde. Grams kam beim Polizeieinsatz ums Leben, er liegt auf dem Wiesbadener Südfriedhof begraben. Markierung A ist das Wiesbadener Staatstheater, an dem der spätere Terrorist zeitweilig zur Statisterie gehörte.

„Verlorene Kämpfer“ heißt der Staatstheater-Abend in der Wiesbadener Wartburg, der die dritte und letzte Generation des RAF-Terrors aus lokalhistorischer Perspektive aufarbeitet. Aber Maxi Obexers sehr gründlich recherchierter und mit originalen Dokumenten ergänzter Text ist kein Terror-Stadtführer, der die Lust am Schaurigen in der Nachbarschaft befriedigen könnte. Um Wiesbaden selbst geht es auch nicht, der Blickwinkel ist nur das Werkzeug der Analyse, die im Raum zwischen lokaler Nähe und historischer Distanz zu einer differenzierten Beschreibung der Ereignisse findet. Dabei behauptet dieser Theaterabend gar nicht die perfekte Rekonstruktion; wo es um konkrete Ereignisse geht, baut er die Szenen aus Fragen und Vermutungen. Dabei mutet Clemens Bechtels Regie dem Publikum erst einmal die Nähe zu Geschehen zu. Die Zuschauer stehen um den Schreibtisch eines Beamten, der die Ereignisse von Bad Kleinen rekonstruiert, Benjamin Krämer-Jenster trägt die Fakten der Festnahme vor, und plötzlich ist man mittendrin in der verwirrenden Handlung maskierter Menschen. Später, wenn die verschiebbaren Wände von Matthias Schallers Bühnenbild sich geöffnet haben und verschiedene Räume formen, dauert es ein Weilchen, bis man entschlüsselt, welche Rollen im Terror-Netzwerk Mira Benser, Lina Habicht, Bettina Römer, Linus Schütz und Paul Simon gerade übernehmen.

Macht aber auch nichts, denn die neunzig konzentrierten Minuten sind keine Schul-Doppelstunde für den Politik-Leistungskurs. Und obwohl die engagierten Schauspieler ihre Rollen sehr einfühlend verkörpern und der Text ihre Motive differenziert beschreibt, ist das keine Lektion für Terroristen-Versteher. Eher für Menschen, die über das Klima der neunziger Jahre nachdenken, in dem der Terrorismus längst abgehandelt schien, als auch die „Rote Armee Fraktion“ 1998 ihre Auflösung bekanntgab.

Dass Clemens Bechtels Regie geschickt die Perspektiven und Erzählhaltungen wechselt, macht den mit langem Beifall aufgenommenen Theaterabend zusätzlich spannend. Zumal er keine einfachen Erklärungen bietet, aber tiefe Einblicke findet, verunsicherte Eltern auftreten lässt, Terroristen, die glauben, den verpassten Widerstand gegen die Nazis nachholen zu müssen, die sich erst im Krieg fühlen und später erkennen, dass der Terror sich selbst erledigt hat. Da gibt es weniger Antworten als viele Fragen. Aber wenn sie auf diese Weise gestellt werden, denkt man gerne darüber nach.