Geht es um Straftaten, reden viele von Tätern, gerechter Strafe, humanem Strafvollzug, Resozialisierung. Dagegen hat auch der Weiße Ring nichts einzuwenden. Doch befand er...
KREIS GROSS-GERAU. Geht es um Straftaten, reden viele von Tätern, gerechter Strafe, humanem Strafvollzug, Resozialisierung. Dagegen hat auch der Weiße Ring nichts einzuwenden. Doch befand er schon bei Gründung vor 41 Jahren, dass Opfer allzu lange auf der Strecke blieben. Desto mehr wollte sich dieser Verein künftig ihrer annehmen, für sie ein Ohr haben, ihnen Rat geben können, Erlittenes zu verarbeiten, dabei Ängste abzubauen und so in ein normales Leben zurückzufinden.
Opfer scheuen meist die Öffentlichkeit
Opfer scheuen meist die Öffentlichkeit, berichtet Barbara Bierach, Leiterin der Beratungsstelle für den Kreis Groß-Gerau. Die Scham ausgerechnet von Opfern geht so weit, dass es den etwa 100, die sich jährlich melden, zunächst leichter fällt, sich anonym und telefonisch an die Beratenden zu wenden. „Ja, wir hatten auch in Rüsselsheim eine Beratungsstelle“, bestätigt sie. „Ein Jahr lang waren wir monatlich in der Auferstehungsgemeinde präsent.“ Aber das habe sich nicht rentiert. Viele hätten Furcht, an ihrem Wohnort auf einen Bekannten zu stoßen, dem sie sich nicht offenbaren wollten.
Die Beratenden vereinbaren einen Termin und machen das Angebot, das Opfer daheim aufzusuchen. „Das ist ein Entgegenkommen. In der vertrauten Umgebung spricht es sich für manchen Menschen leichter als im nüchternen Büro einer Beratungsstelle.“ Die Beratenden sind aber auch gern bereit, sich an einem neutralen Ort zu treffen, etwa in einem Café in der Nähe des Opfers, damit es nicht zu weite Wege zurücklegen muss. Die Schwelle, Hilfe anzunehmen, soll niedrig gehalten werden. Die Beratung erfolgt für den Ratsuchenden kostenlos. Finanziert wird sie über Spenden und Mitgliedsbeiträge sowie Bußgeldzahlungen, die von Gerichten zugewiesen worden sind. „Manche Menschen lassen uns auch testamentarisch etwas zukommen, weil sie unsere Arbeit schätzen“, berichtet Bierach.
Körperverletzung, häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, Stalking, Trickbetrug an der Wohnungstür sind die häufigsten Delikte, nach denen sich hiesige Opfer melden. 80 Prozent der Anrufenden sind Frauen. 60 Prozent von ihnen melden sich als Opfer häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt. „Manche werden krank, verlieren ihre Arbeitsstelle, gleiten ab bis zur Verarmung.“
Die Belastung des Beraterteams aus einem Mann und sechs Frauen ist nicht gering, sie bekommen Schlimmes zu hören und fühlen sich in die Opfer ein. Schulung, psychische Entlastung durch Supervision und monatliche Teamgespräche helfen, dranzubleiben. Natürlich motiviert die Erfahrung ungemein, immer wieder jemanden – auch mit dessen eigener Hilfe – durch Beratung und wenn notwendig Weitervermittlung aus einer schlimmen seelischen und/oder materiellen Situation herausgebracht zu haben. Eigenkräfte des Opfers zu mobilisieren, das Selbstbewusstsein wieder zu stärken, ist neben aller Beratung über die Wahrnehmung von Rechten und notwendigem, aber nicht immer erreichbarem materiellem Schadensausgleich ein Hauptziel der Beratenden.
Barbara Bierach, seit neun Jahren Beraterin, ist noch nie selbst Opfer geworden. Von Angesicht zu Angesicht Vertrauen aufzubauen und nützliche Lotsendienste zu verrichten, macht ihr viel Freude. Die Unmittelbarkeit, in der sie hier Mitmenschen unterstützen kann, befriedigt ihr offenbar ausgeprägtes Bedürfnis, Opfern einen gewissen Ausgleich verschaffen zu können. Im Team weiß sie sich mit anderen darin einig und fühlt sich selbst gut aufgehoben. Dankbar ist Bierach auch, dass inzwischen Ärzte, Polizisten, Seelsorger und weitere Menschen auf den Weißen Ring und seine Angebote hinweisen. Großartig sei, dass die hiesige Polizei eine Opferschutzbeauftragte eingesetzt habe. Täter riefen übrigens beim hiesigen Weißen Ring noch nie an. Dabei könnten sie erfahren, welches Leid sie anderen bereitet haben.
Von Michael Wien